Irma Speckmann

 

 

 

Nur ein Knoten

 

 

 

 

Hanne, als sie sich erinnert

 

 

 

 

 

 

Hannes Geburtshaus

 

 

Der Kalender zeigte den 7. Januar 1921.

Es war ein richtiger Winterabend. Eine dicke Schneedecke lag über den Feldern, die sich rings um den großen Bauernhof reihten. Die Bäuerin spürte die ersten Wehen, und sie bat ihren Mann, die Hebamme holen zu lassen. Es war das fünfte Kind, das sie zur Welt brachte; sie hatte Erfahrung und trieb ihren Mann zur Eile.

Der Knecht Hermann spannte den "dicken Kölner", so nannte der Bauer seinen rotbraunen Wallach, vor den Schlitten und fuhr los. Er kannte den Weg zur Hebamme recht gut, doch der viele Schnee und die Dunkelheit ließen ihn langsam fahren, zumal die Laterne, die an der linken Seite des Schlittens befestigt war, nur spärliches Licht spendete.

Hermann war schon viele Jahre auf dem Hof, er war klein an Gestalt, doch ehrlich und zuverlässig. Nun drehte er aufgeregt an seinem blonden Schnäuzer. Die Zigarre im Mund war schon längst ausgegangen und nur noch ein kurzer, feuchter Stummel. Hermann schätzte die Bäuerin sehr. Er wollte ihr rasch Hilfe bringen, und deshalb nahm er ein paar Mal die Peitsche und trieb den Wallach zum schnelleren Lauf an. Hermann war ein gutmütiger Mensch, nur wenn er Alkohol getrunken hatte, ging man ihm am besten aus dem Wege; vor allem konnte er dann recht böse zu den Mädchen werden, sie mit unberechtigten Vorwürfen beleidigen, und dann duldete er nicht den geringsten Widerspruch. Vielleicht war die Ursache seines Verhaltens darin zu finden, weil wohl niemals ein Mädchen zärtlich zu ihm gewesen war und seine kleine Gestalt oft zum Gespött genommen wurde.

Die Wehen wurden stärker und kamen öfter, als endlich die Hebamme, eine Frau in mittleren Jahren, rundlich aber flink, der Bäuerin gut zusprach und alle Vorkehrungen für die Entbindung traf. Sie hatte auch die anderen Kinder der Bäuerin geholt und kannte Hof und Familie gut. Sie war stolz, auch jetzt wieder ihren Dienst auf dem Hofe tun zu dürfen, denn der Bauer war in weiter Umgebung sehr bekannt und geachtet.

Dann war es so weit; der Schrei eines Neugeborenen war zu hören, selbst im Nebenzimmer, wo der Bauer auf das freudige Ereignis wartete.

Hörte die Bäuerin recht? "Nummer eins" hatte die Hebamme gesagt? Hieß das etwa, dass noch ein zweites Kind kommen sollte? Wieder kam eine Wehe und dann wusste die Bäuerin: sie hatte Zwillinge geboren. "Wie werden sie schimpfen, dass so viel Arbeit hinzukommt" dachte sie und konnte sich nicht freuen. Die anderen Kinder waren noch klein, es waren doch schon vier und nun gleich zwei. Dann hörte sie die Worte: "ein Junge, aber er ist tot". Sie konnte nicht traurig sein, nun war es doch nur ein Kind, das hinzugekommen war. Es war ein Mädchen, hässlich anzusehen, nur Haut und Knochen, es wog 2,5 Pfund. Würde es am Leben bleiben? Als man das winzige Etwas an die Brust legen wollte, war es einfach zu schwach zum Saugen, es musste mit kleinsten Mengen gefüttert werden und das Tag und Nacht. "Alle zwei Stunden einen Strich aus der Flasche" hatte der Arzt gesagt "sonst stirbt das kleine Ding". Diese Aufgabe übernahm die Schwester der Bäuerin, sie war eine gute Seele, und das kleine Mädchen nannte man nach ihr "Hanne". Nach ein paar Tagen holte man doch den Pastor, dem Kind eine Nottaufe geben zu lassen, man glaubte nicht, dass es am Leben bleiben würde. Der Pastor sah sich das Kind an und meinte: "Seht dem Kind in die Augen, die schauen so keck in die Welt, das Kind kommt durch" und er behielt Recht, wenn es auch viel Mühe kostete, das winzige "Würmchen" nach und nach kräftiger werden zu sehen.

Ein paar Jahre später war aus dem kleinen Menschlein ein zartes blondes Lockenköpfen geworden, mit blauen Augen und dünnen Beinchen, die bei jedem Schritt zu brechen drohten, aber der kleine Mund stand niemals still. Hanne wurde besonders Omas Liebling, und so war es selbstverständlich, dass sie abends zu ihr ins Bett kroch, da ihr Bettchen in Omas Zimmer stand. Als man sie eines Morgens tot im Bett fand, da lag Hanne in ihrem linken Arm, die rechte Hand hatte die Sterbende auf ihr Herz gelegt, das so plötzlich aufgehört hatte zu schlagen.

Hanne blieb stets ein zartes, aber zähes Mädchen. Der Schulweg war lang und führte über weites, offenes Feld. Im Sommer war es ein Vergnügen, mit dem Fahrrad über den von hohem Korn eingesäumten Weg zur Schule zu fahren, aber im Winter fegte der Schneesturm ungehindert über das Feld und den Schulweg hinweg. Es gab kein Pardon. Nur an seltensten Tagen, wenn der Schnee allzu hoch lag, wurde der Schlitten angespannt, der die Kinder zur Schule brachte. An solch einem Wintertag kam Hanne eines Mittags mit feuerroten Händen nach Hause, und ihr jüngster Bruder hatte ein Ohr, das doppelt so groß wie normal war. Hannes Mutter holte rasch einen Eimer voll Schnee ins Haus und rieb die Händchen und das vor Frost abstehende Ohr. Wenn sie nicht so schnell und richtig gehandelt hätte, versicherte ihr später der Arzt, dann wären Hannes Finger und das Ohr ihres Bruders erfroren. Aber gottlob war es nicht immer so kalt. Manchmal machte es auch Spaß, durch den vielen Schnee den Rückweg von der Schule anzutreten. Dann wurden "Männchen" in den Schnee "gemalt", indem man sich mit ausgebreiteten Armen und Beinen mit dem Rücken auf den Schnee legte und sich kräftig hineindrückte. So entstand dann nebeneinander eine Kette von "Männchen". Und auf einem solchen Heimweg von der Schule war es, als der Nachbarssohn Willi, der Hanne gut leiden konnte und sie ihn auch, bei einem Schneeballspiel ihr einen Kuss auf den Mund drückte. Das kam so überraschend, dass Hanne sich nicht wehren konnte, und wahrscheinlich hätte sie es auch gar nicht getan. "Nun bin ich verlobt" dachte sie. Sie hatte gehört, dass man verlobt sei, wenn man sich geküsst habe. Zu Hause konnte sie ihre Mutter nicht anschauen und ihr Herz klopfte vor Angst, was der Vater dazu sagen würde. Hanne ging an diesem Abend sehr früh zu Bett, um ihrem Vater nicht zu begegnen. Hanne sprach mit ihrer Schwester, die vier Jahre älter war als sie, über ihre Angst und Sorge, und bald war dieses Erlebnis vergessen.

Zum Nachbarhof gehörte ein großer Teich. Es machte immer viel Spaß, eine Schlinderbahn auf dem Eis herzurichten und dann einige Meter lang über sie hinwegzurutschen. Damals trugen die Kinder auf dem Lande Holzschuhe. Manchmal waren sie rot angestrichen und sahen recht hübsch aus. Im Winter trug man dicke Socken, und selten bekamen die Kinder in ihnen kalte Füße. Das Schlindern auf dem Eis ging in diesen Holzschuhen besonders gut, vor allem, wenn man die Sohle angefeuchtet hatte. Hanne und ihre Freundin Elsbeth waren an diesem Nachmittag allein auf dem Eis. "Sollen wir unsere Holzschuhe nicht anfeuchten?", fragte Hanne. "Am Rande des Teiches ist das Wasser zu sehen". Gesagt - getan. Die beiden Mädchen gingen an das Ufer. Hanne hatte bereits einen Fuß im Wasser, als ein Knistern zu hören war. Sie konnten nicht mehr fortlaufen. Das Knistern wurde so stark, und plumps lag Hanne bis zum Hals im eiskalten Wasser. Sie schrie um Hilfe, ihre Freundin wollte sie retten, streckte die Arme nach ihr aus und wieder krachte das Eis; nun schrien beide aus Leibes Kräften. Sie hatten Glück. Der Nachbar hatte sie gehört, lief eiligst zu ihnen und zog die beiden Mädchen heraus. Er brachte sie schnell ins Haus, damit sie trockene Kleider anziehen konnten. Hanne zog ein Kleid ihrer Freundin an. Dann lief sie heimlich, immer erst nachsehend, ob der Vater nicht in der Nähe war, nach Hause. Sie schlich sich an der Scheune entlang und dann geschwind durch die Seitentür ins Haus. Niemand war zu sehen. So konnte sie unbemerkt auf ihr Zimmer schleichen und dann rasch ihr eigenes Zeug anziehen. "Hoffentlich habe ich mich nicht erkältet", dachte Hanne; sie müsste dann ihren Fehltritt - im wahrsten Sinne des Wortes - beichten, was für ihren Vater bestimmt ein Grund zur Strafe gewesen wäre.

Doch Hanne hatte das kalte Wasser nichts ausgemacht. Am anderen Morgen konnte sie ihren Schulkameraden das Erlebte nicht verschweigen. Sie erzählte ihnen von ihrem Geschick - doch diese wussten nichts besseres, als es dem Lehrer weiter zu erzählen. Er forderte Hanne auf, das Gedicht vom 'Büblein auf dem Eis' aufzusagen, nur musste Hanne ihren eigenen Namen einsetzen:

  

Gefroren hat es heuer,

noch gar kein festes Eis,

und Hanne steht am Weiher

und spricht so zu sich leis:

das Eis,

es muss doch tragen

- wer weiß -

. . . wär’ nicht ein Mann gekommen,

der sich ein Herz genommen

. . . wer weiß!

 

Hannes Vater war viele Jahre lang der Schiedsrichter von Tendorf. Während seiner Zeit ist nicht ein Fall zum Amtsgericht gekommen - er hat die Parteien schon in seinem "Amtszimmer" wieder versöhnt. Sein Rezept war folgendes: er schloss die beiden Parteien - meist waren es Bauern - in seinem Büro ein mit dem Hinweis: "ihr kommt hier nicht eher wieder heraus, bis ihr euch versöhnt habt - und dann trinken wir eine Flasche Cognak zusammen". Es hat immer geklappt. War es Respekt vor seiner Persönlichkeit oder Vertrauen zu seinem "Rechtsspruch"? In eigener Sache ließ er es jedoch auf einen Prozess ankommen. Es ging um einen Pferdekauf. Sein Kontrahent sollte vor Gericht schwören. Die Anwesenden erhoben sich - nur Hannes Vater blieb sitzen. Der Aufforderung des Richters, sich auch zu erheben, begegnete er mit den Worten: "Bei einem Meineid erhebe ich mich nicht". Es kam zu keinem Schwur - der Bauer gab seine Schuld zu. Der Richter wandte sich an den Beklagten und sagte: "Bedanken Sie sich bei Herrn Meier zu Tendorf, er hat Sie vor einem Meineid bewahrt."

Wenn Hannes Vater seine Kinder bestraft hatte - sei es durch Schimpfe oder gar mit Schlägen - war für ihn die Sache erledigt. "Und nun gib deinem Vater einen Kuss" sagte er dann. Konnte er annehmen, auch sein Kind besäße die "Charakterstärke", so schnell vergessen zu können?

Hannes Vater war ein strenger und fortschrittlicher Mann. Er schickte seine Kinder auf die höhere Schule, was zu jener Zeit auf dem Lande eine Besonderheit war, denn die Eltern mussten noch Schulgeld zahlen, und das nicht gering. Die höhere Schule war zudem in der Kreisstadt, die sechs Kilometer von dem Hof entfernt war. Es gab weder einen Zug noch eine Autobusverbindung. Die Schüler mussten mit dem Fahrrad den weiten Weg zurücklegen und dazu auf diesem Wege einen elfprozentigen Berg bewältigen. Der Hinweg war sehr anstrengend; dafür ging es dann zurück bergab. Das bedeutete eine große Gefahr. So passierte es, dass einem Schüler die Kette am Fahrrad riss, er die Gewalt über sein Rad verlor und den Berg hinabraste. Er fuhr gegen einen Baum und erlitt eine schwere Gehirnerschütterung. Die nächsten Tage schoben die Schüler ihr Fahrrad den Berg hinunter, aber das dauerte nicht lange und sie fanden wieder ihren Spaß daran, wie der Blitz den Berg hinabzufegen. Auch Hanne war dabei. Selbst ihre überaus dünnen Beine schafften den Weg ohne Mühe. Sie ärgerte sich immer, wenn Nachbarskinder zu ihr sagten: "Der Spatz hat Beene - Waden hat er keene". Ging es aber ums Laufen, dann lachten sie nicht mehr. Die dünnen "Beene" waren leistungsfähiger als sie erwartet hatten.

Einmal kam Hanne weinend nach Hause, der Lehrer hatte auf ihrem Haar eine Laus entdeckt. Ihre Mutter war entsetzt. Gleich wurde ein ,Lausekamm’ gekauft, ein Kamm mit ganz feinen, dichten Zacken, durch die keine Laus schlüpfen konnte. Es wurde gekämmt - so lange, bis keine Laus mehr zu finden war. Das konnte eine Stunde dauern und länger. Man hatte damals noch nicht die chemischen Mittel, die Läuse zu vernichten, oder man genierte sich, diese Mittel zu kaufen, schließlich war man ja "wer" und diesen Besitz der Läuse behielt man lieber für sich. Es wäre ja viel einfacher, die Haare ganz kurz zu schneiden, was aber bei Hannes Lockenkopf zu schade gewesen wäre. Woher kamen nun diese Läuse? Auf dem Hof dienten damals viele Knechte und Mägde. Sie kamen aus ärmsten und primitiven Verhältnissen. Ein Badezimmer war selten vorhanden, auch kannte man kaum eine Dusche. Das Waschen geschah in einer Schüssel und wohl auch nicht oft genug.

Hanne hatte öfter beobachtet, dass die Magd Frieda den Stock, mit dem sie das Vieh auf die Weide trieb, dazu benutzte, auf ihrem Kopf zu kratzen. Nun wusste sie, dass es bestimmt Läuse waren, die sie dazu veranlassten.

Der Lehrer nahm Hanne die Laus nicht übel, die ja schnellstens auch beseitigt wurde. Er nannte Hanne weiterhin in der Englischstunde "our little pretty girl", wenn er der Klasse den Unterschied zwischen den Adjektiven: nice, fine, beautiful, pretty klar machen wollte. Hanne lernte leicht, das kam ihr zugute, denn viel Zeit zum Lernen ließ der Vater seinen Kinder nicht. Wenn sie mittags aus der Schule nach Hause kamen, besonders im Sommer, lag schon ein Auftrag für sie bereit. Entweder mussten die Kinder dann auf dem Felde helfen oder im Hause eine Arbeit verrichten. Im Winter bestand die Arbeit darin, die Kartoffeln im Keller zu entkeimen und sie anschließend für die paar hundert Schweine zu kochen. Spaß machte es dann wohl, die gekochten Kartoffeln zu pellen, sie mit Salz bestreuen und vor dem glühenden Feuer zu essen.

Auch sonntags hatten die Kinder ihre Pflichten zu erfüllen. Es war nicht leicht zu gehorchen, wenn die Nachbarskinder spielten und Hannes Vater nach dem Mittagessen sagte: "Jetzt erledigen wir die Papiere", das hieß: es ging ins Büro und dort wurde die angefallene Post beantwortet, Rechnungen über Lohnarbeiten, gelieferte Ware geschrieben und erledigte Sachen in Ordnern abgeheftet. So vergingen ein paar Stunden, wertwolle Stunden für die Kinder zum Spielen. Hätte der Vater ins Herz seiner Hanne schauen können, ihre Traurigkeit müsste ihn gerührt haben. Warum durften sie nicht wie die anderen Kinder den Sonntag mit dem ausfüllen, was sie gerne mochten.

Hanne freute sich auf einen besonderen Tag. Es war der festgesetzte Hochzeitstag des Heuerlings Gustav. Er wohnte im Kotten auf dem Hofe. Es sollte eine schöne Hochzeit werden. Die Diele war geschmückt mit Tannengrün und bunten Papierblumen, alles war bestens vorbereitet. Das Brautpaar schaute glücklich drein. Der Tag verlief fröhlich, alle waren zufrieden. Nach dem Abendessen sollte der unterhaltende Teil des Abends beginnen. Gedichte wurden vorgetragen, Tänze und Spiele erfreuten die Mitwirkenden und diejenigen, die nur zuschauen wollten. Bei einem Tanzspiel sollte Hanne einen kleinen Negerjungen darstellen. Zu diesem Zweck hatte sie ihr Gesicht schwarz gemacht, nicht ahnend, was sie damit angerichtet hatte. Während des Spiels stand ihr Vater auf, nahm brüsk ihre Hand, zog sie hinaus und dann bekam Hanne Schelte und Schläge, weil sie sich so ,entstellt’ hatte, wie der Vater meinte. Das Fest war für Hanne beendet und die Stimmung der übrigen Gäste natürlich für eine Weile stark beeinträchtigt. Hanne ging auf ihr Zimmer und niemand sah die Tränen, die sie an diesem Abend in ihr Kissen weinte. Auf ihre Frage: was habe ich nur böses getan? fand sie keine Antwort.

Hannes Bruder Peter besuchte das Gymnasium in Gütersloh. Er wohnte dort sehr billig bei einem Schuhmacher, der ein besonders guter Mensch war. Er hatte schnell gemerkt, dass Peters Vater sehr streng und mit dem Taschengeld äußerst sparsam war. Kein Wunder, dass sich Peter bei diesen Menschen sehr wohl fühlte. Auch die Frau des Schuhmachers war eine gute Seele. Dieses ältere Ehepaar versicherte dem Vater: "Er bringt uns die Sonne ins Haus".

Zum Wochenende radelte Peter stets die 20 km nach Hause, weil sein Vater ihm dann das gesparte Kostgeld auszahlte. Die Ferien verbrachte er selbstverständlich auf dem elterlichen Hof, um dann wie seine Geschwister in der Ernte eingesetzt zu werden, praktisch als Gegenleistung für das für ihn gezahlte Geld für den Besuch des Gymnasiums.

Mit dem Alter wuchsen nicht nur die Anforderungen in der Schule, sondern auch die Leistungen, die der Vater seinen Kindern abverlangte. So passierte es, dass die Magd, die frühmorgens das Wohnzimmer putzen wollte, den ältesten Sohn Heinrich über seinen Schularbeiten eingeschlafen, fand. Die Müdigkeit hatte ihn übermannt, als er abends nach der Arbeit seine Schulaufgaben erledigen wollte. Zudem verlangte der Vater von seinen Kindern gute Zensuren.

Es war zu der Zeit, als die Schüler der höheren Schule bunte Schülermützen trugen. In jedem Jahr hatten sie eine andere Farbe, brauchten also nur ein Jahr zu halten, es sei denn, der Schüler musste das Jahr wiederholen. Der Vater hatte verboten, die neue Mütze auch bei Regenwetter zu tragen, dann sollte die vorherige aufgesetzt werden. Es geschah, dass Hanne auch an jenem Tage ihre neue Mütze trug, als mittags ein starker Regenschauer einsetzte. Mit bangem Herzen fuhr sie nach Hause, in der Hoffnung, dass ihr Vater bei ihrer Rückkehr nicht anwesend sein würde. Es kam aber anders: Für jedes Kind war in der Dielenwand ein Stand für sein Fahrrad. Kaum hatte Hanne ihr Rad abgestellt, als ihr Vater neben ihr stand. Er sah die neue Mütze auf dem Kopf und gleich strafte er Hanne durch Schläge mit seiner Hand. Aus Schreck und Angst vor weiteren Schlägen konnte Hanne das Wasser nicht halten; ein kleines Bächlein floss an ihren Beinen entlang und dann auf die Erde. Wie hasste und fürchtete sie in diesem Augenblick ihren Vater. Wenn Hanne auch zäh und gesund, so war sie doch ein sensibles Kind. Ihre Tränen saßen locker, wenn man ihr Unrecht tat. Und diese lockeren Tränen veranlassten ihren Vater zu der Annahme, Hanne sei psychisch nicht ganz normal. Das konnte er nicht ertragen und versuchte nun, durch harte Erziehung sie zu ,festigen’.

Eines Tages sollte Hanne ein Säckchen mit Rübensamen zu ihrem Onkel, dem Bruder ihres Vaters, bringen, der auch einen großen Hof besaß. Hanne schaute ihren Vater ängstlich an und bat ihn, doch jemand anderen zu schicken, sie habe Angst vor ihrer Cousine Edith. Schon saß die Hand wieder an ihrem Kopf. "Du hast Angst vor deiner jüngeren Cousine" schimpfte der Vater, er war sehr böse. Wieder passierte es, dass Hanne ihr Wasser nicht halten konnte und ein kleiner Bach entstand in der Küche. Hannes Mutter, die Liebe und Güte in Person, nahm Hanne in den Arm und fragte sie nach dem Grund ihrer Angst. Die Cousine war wohl jünger, aber größer und stärker als Hanne. Es machte ihr Spaß, Hanne an ihren blonden Zöpfen so lange zu ’ ziehen bis sie auf der Erde lag. Wie hätte sie sich da wehren können? Die Mutter suchte den Vater auf und berichtete ihm, was Hanne ihr anvertraut hatte. Außerdem sei sie der Ansicht, dass Hanne die gleiche charakterliche Veranlagung habe wie seine Mutter, die er sehr liebte. Hannes Vater dachte über die Worte nach und war von ihrer Wahrheit überzeugt. Sein Gewissen schlug ihm, und um etwas gut zu machen, schenkte er Hanne das neue Fahrrad, das schon seit Wochen auf dem Wäscheboden stand. Sie durfte mit ihm den Rübensamen zum Onkel bringen. Hanne war natürlich überaus froh und die Angst spielte kaum noch eine Rolle.

Hanne war in der Schulklasse die Kleinste, ja sogar zwei Jahre lang von der ganzen Schule. Wenn zur Flaggenparade angetreten wurde, was zu der Zeit öfter vorkam, wusste Hanne ihren Platz am Ende der langen Schülerreihe, doch wenn es hieß: "Kehrt", marschierte sie stolz an der Spitze.

Hanne hatte den Wunsch, Apothekerin zu werden. Die Lateinstunde bereitete ihr viel Freude. Da Latein an dieser Schule aber ein Wahlfach war, schrumpfte die Zahl der teilnehmenden Schüler immer mehr zusammen bis die Lehrerin eines Tages erklärte, es lohne sich nicht mehr, die drei übrig gebliebenen Schüler in Latein zu unterrichten. "aqua - das Wasser, vinum - der Wein, scher dich zum Teufel verflixtes Latein" hatte dieser Lehrstunde ein Ende gesetzt.

Der Lehrer nannte Hanne ,unseren Knoten’, weil sie klein und zart, aber zäh war. Wenn es hieß: heute ist Wandertag, fragte er besorgt: "Kannst du die Anstrengung auch aushalten?". Die Klassenkameraden sprachen dann von einem Platz in ihrem Rucksack. Doch Hanne war die Letzte, die schlapp gemacht hätte.

In der Schule übten die jungen Mädchen in der Pause den "englischen Walzer", der gerade Mode war. Hannes Bruder Peter hatte einen Tanzkursus besucht. Von ihm lernte sie besondere Tanzschritte, die sie dann ihren Klassenkameradinnen zeigte. Hanne war ein rechter Schelm geworden. So nannte sie auch öfter ihr Lehrer. Sie hatte in einer Geografiestunde entdeckt, dass sie mit ihren Armmuskeln spielen konnte. Sie ließ die Muskeln hin- und herbewegen. Vielleicht waren sie von der Arbeit so ausgeprägt. Sogleich musste sie diese Entdeckung ihrer Freundin, die neben ihr saß, mitteilen und zeigen. Diese lachte laut in die Klasse hinein und war natürlich ein paar Minuten später vor der Tür. Hanne hatte zwar ein schlechtes Gewissen, aber sollte sie dem Lehrer ihre Schuld bekennen? Zuvor sollten auch die anderen Klassenkameradinnen von ihren ,Künsten’ erfahren. Es konnte auch vorkommen, dass eine Unterrichtsstunde sehr langweilig war, dann machte Hanne ihre Nachbarin auf sich aufmerksam und ließ wieder ihre Muskel springen. Diese gab den Spaß weiter mit den Worten: "Hanne macht das wieder". Es dauerte nicht lange bis die ganze Klasse lachte. Hanne schaute dabei ihren Lehrer brav und harmlos an. Er hat nie erfahren, dass sie es war, die seine Schüler zur Unaufmerksamkeit bewegt hatte. Ob er ihr böse wäre oder ihr heute verzeihen würde ? Jedenfalls ist die Schuld längst verjährt.

Auf einer Rückfahrt von der Schule, es war im Sommer, hatten Hanne und ihre Freundin ein hässliches Erlebnis. Plaudernd schoben sie ihre Fahrräder den Berg hinauf, als sie wenige Schritte von sich entfernt einen Mann an einem Baum stehen sahen. "Der macht Pipi" sagte Hannes Freundin. Als sie aber nahe bei ihm waren - sie hatten nicht wenig Angst - drehte sich der Mann um, bewegte seinen Penis hin und her und rief: "Mädchen ! Mädchen !" Sie sprangen auf ihr Rad, fuhren den Berg keuchend hinauf und schauten sich ängstlich um, ob er ihnen folgen würde. Immer, wenn sie an dieser Stelle vorbeikamen, mussten sie an diesen unverschämten Mann denken.

Hannes Klasse bestand aus sieben Schülern und sieben Schülerinnen. Einer der Jungen hieß ,Wilhelm’. Er schaute auffallend oft in den Spiegel, ob seine Haare auch korrekt lagen, und wahrscheinlich gefiel er sich selbst. Er hatte bald den Spitznamen ,Wilhelm der Schöne ’ . Um noch attraktiver zu sein, kam er eines Tages auf die Idee, zu seinem schwarzen Haar müsste doch eine blonde Locke von Hanne gut aussehen. Gedacht - getan! In einem ,unbewachten’ Augenblick hatte er eine wunderschöne Locke von Hannes Haar abgeschnitten und steckte sie mit einer Klemmer an seinem Scheitel fest. Hanne war außer sich, sie war stolz auf ihre Locke, die wie eine 6 in ihrem Nacken hing. Aber futsch ist futsch, sie dachte nur noch an Rache. In dem Augenblick, in dem der Lehrer die Klasse betrat, gab sie Wilhelm einen Stoß, dass er in die Bank fiel, er stand nämlich Hanne gegenüber. Natürlich war er Kavalier genug, die Rüge des Lehrers und die Strafarbeit auf sich zu nehmen. Er musste hundert Mal schreiben: "Ich muss still stehen". Hannes Locke war ihm dies wert.

Hanne freute sich auf den Tag der Konfirmation, der immer näher rückte. In der letzten Konfirmationsstunde hatte ihr Pfarrer ihr erklärt, dass ihm eine Panne unterlaufen sei. Er hatte alle Konfirmanden und Konfirmandinnen - getrennt nach den Orten, aus denen sie kamen, in einem kleinen Heftchen aufgeführt. Da Hanne die Einzige aus dem Ort Tendorf war, hatte er vergessen, ihren Namen einzutragen. Sie nahm das nicht tragisch. Am Tage der Konfirmation meinte sie, dass es wohl richtig sei, die Eltern darauf hinzuweisen, da sie ja vergeblich nach dem Namen ihrer Tochter suchen würden. Sie erzählte von dem Pech, dass der Pfarrer sie vergessen hatte und die kleinen Heftchen schon gedruckt waren. Hannes Mutter sagte: "Das ist doch nicht so schlimm, die Hauptsache ist, dass der Herrgott dich nicht vergisst". Hannes Vater aber geriet außer sich. Gerade seine Tochter hatte man nicht aufgeführt. Er tobte und wollte nicht an der Konfirmationsfeier teilnehmen. Hanne schluchzte, zumal ihr Vater ihr Vorwürfe machte, ihm das nicht früher mitgeteilt zu haben, er hätte verlangt, dass alle Heftchen neu gedruckt würden. Doch schließlich ließ er sich von seiner Frau besänftigen und zürnend trat er mit ihnen den Weg zur Kirche an.

Die Schulzeit war für Hanne trotz des langen Weges und der wenigen Zeit zum Lernen, die der Vater ihr ließ, eine schöne Zeit. Sie verband sie mit der Stadt, sie hörte von ihren Klassenkameradinnen von neuen, interessanten Filmen und hörte zu, wenn ein paar Mädchen auch von ihren Freunden sprachen. Diese Mädchen waren ganz anders als Hanne, sie waren größer, hatten stramme Busen, erzählten von ihren Beschwerden während der monatlichen Regel. Hanne bewunderte sie im Stillen. Wie gern hätte auch sie einmal zu der Turnlehrerin gesagt: "Fräulein Vollmer, ich kann heute nicht mitturnen, ich bin unwohl". Sie konnte ihre Brust noch so ausstrecken, es half nichts, von einem Busen war selbst im engen Pulli kaum was zu sehen. Die Jungens ahnten nicht, wie sehr sie Hanne kränkten, wenn sie zu ihr sagten: "Mönchen - Gladbach", das sollte heißen: glatte Strecke - platte Brust.

Eine große Überraschung war es für Hanne, als auf der Abschiedsfeier bei der Entlassung aus der Schule der Rektor ihren Namen aufrief, als eine Sondergabe des Schulrats an die beste Schülerin und den besten Schüler vergeben wurde. Sie konnte es nicht fassen, der Rektor musste zweimal ihren Namen rufen, bevor sie aufstand, um die Urkunde und das Buch in Empfang zu nehmen. Sie konnte nicht glauben, dass gerade sie vor allen anderen ausgezeichnet werden sollte. Dann war die Freude natürlich groß. Ihr Vater gab ihr einem 20 RM-Schein.

Der kleine "Knoten", der sie all die Jahre hindurch gewesen war, sollte heute die Hauptperson sein. Dankbar schaute sie ihren Rektor an und sie fühlte, dass er es stets gut mit ihr gemeint hatte. Er wusste auch, dass es für Hanne nicht leicht gewesen war, als Kleinste in der Klasse ernst genommen zu werden, dazu als ,Auswärtige’ - so nannte man die Schüler, die nicht in der Stadt wohnten und von auswärts, oft vom Lande kamen. Wenn Hanne im Herbst die dicken roten Äpfel in ihrer Schultasche hatte und sie unter die Mitschüler verteilte, dann war sie froh, den Mitschülerinnen eine Freude machen zu können, sonst fühlte sie sich als den kleinen "Knoten", der so unterentwickelt war, noch keinen Freund hatte, noch solch ein ,Kind’ war.

Als Hanne die Schule hinter sich hatte, hungrig von der Arbeit im Haus und auf dem Felde, die guten Mahlzeiten einnahm, wurde aus dem Kind ein junges Mädchen. Sie entwickelte sich, wurde größer, und eines Morgens fand sie, als sie aufstehen wollte, einen roten Fleck auf ihrem Betttuch, die Regel hatte eingesetzt. Glücklich, nun auch ein vollwertiges Mädchen zu sein, lief sie zu ihrer Schwester, um ihr das Ereignis mitzuteilen. Die sagte erleichtert: "Nun kannst du doch Kinder bekommen, ich dachte schon, du würdest nie welche kriegen können, was bei Zwillingen oft vorkommen soll".

Die Tage verliefen fast gleichmäßig. Hanne musste um 5 Uhr früh aufstehen. Ihr Schlafzimmer lag neben der Eltern Zimmer. Ihr Vater liebte gute und reichliche Kost, so war es kein Wunder, dass er sehr korpulent geworden war, die Waage zeigte über zwei Zentner. Da es ihm schwer wurde, seine Strümpfe selbst anzuziehen, war es Hannes erste Aufgabe, ihrem Vater - noch im Bett liegend - die Strümpfe anzuziehen; das hatte zur Folge, dass sie sich nie verschlafen durfte, der Vater hätte es dann gemerkt. Dann ging sie in die Küche, machte Feuer im Herd und kochte für zwanzig Personen die allmorgendliche Milchsuppe. Um 7 Uhr war dann auch der Vater aufgestanden. Die Morgenandacht wurde gehalten: ein Bibelvers gelesen und ein Lied, d.h. nur eine Strophe dieses Kirchenliedes gesungen. Bald erklang die große Glocke auf der Diele, sie rief zur Arbeit. Sie läutete auch zu den Mahlzeiten und war im ganzen Haus zu hören, ja sogar auf dem Hofe und der nächsten Umgebung. Wenn jemand nicht pünktlich war, wurde der Bauer sehr böse. Abends wurde nach der Werke - so nannte man das Füttern des Viehs - und dem Abendessen wieder eine Andacht gehalten. Nun hatte man ja Zeit und so wurde nicht nur ein Vers, sondern das ganze Lied - und waren es auch ein Dutzend Strophen - gesungen. Als einmal ein junger Knecht seinen Unmut über die Länge der Andacht laut werden ließ - er hatte an diesem Abend vielleicht sein eigenes Programm - ließ der Bauer ihn ins Kontor kommen. Man konnte sein lautes Schimpfen und des jungen Mannes Stammeln von Entschuldigungen hören. Es war kein Zweifel, er hatte Schläge mit der Peitsche bekommen. Mit dieser Peitsche, sie hatte neun Riemen, "Hundepeitsche" genannt, bestrafte der Vater auch seine Kinder, wenn sie ungehorsam oder eine Kindertorheit begangen hatten. So bekam Hannes Bruder Erwin diese Riemen zu spüren, als er von dem Geld, das ihm der Opa zum Geburtstag gegeben hatte, einen Fußball kaufte, den er sich schon lange gewünscht hatte. Er glaubte, das Geld ohne den Vater zu fragen, ausgeben zu dürfen. Als der Vater von dem Kauf erfuhr, und dass von dem Geld nichts mehr übrig war, strafte er Erwin mit der Peitsche.

Der Vater glaubte wohl, seine Kinder zur Sparsamkeit erziehen zu müssen. Wenn er dann dreimal schlug, waren es: 3 x 9 = 27 Striemen. Hannes Bruder konnte einmal nicht zur Schule gehen, weil sein Popo blau war und zu arg schmerzte. Als Hannes Schwester sich in einen jungen Bauern verliebt hatte, und der Vater sie bei einem Rendezvous ertappte, strafte er sie ebenfalls. Hannes Mutter war dagegen machtlos, sie hat, so sagte sie einmal: manchen Schlag aufgefangen. Das war auch an dem Tag, als Hannes Bruder Peter noch klein war und er dem Pfarrer bei seinem Besuch die Hand nicht geben wollte. Der kleine Peter weigerte sich, den Gast zu begrüßen, und selbst der Befehl des Vaters konnte ihn nicht dazu bewegen. Peter mochte den Pfarrer nicht. Sein Vater wurde zornig, nahm ihn mit ins Badezimmer und schlug ihn so heftig, dass der kleine Peter es nicht durchgestanden hätte, wenn nicht seine Mutter hinzugekommen wäre. Der Vater hatte zuvor dem Pfarrer gegenüber von dem Gehorsam seiner Kinder gesprochen und fühlte sich nun blamiert, das sollte der kleine Peter büßen. Wenn ein Kind in der Verwandtschaft ungezogen war, drohte man ihm, es einige Tage zu Hannes Vater zu schicken, so bekannt war seine Strenge und sein Verlangen nach unbedingtem Gehorsam.

Hanne war zwar klein und zart, doch ihre Füße wuchsen schnell. Ihr Vater konnte nicht verstehen, wenn sie um neue Schuhe bat, da die alten ihr zu klein geworden waren. "Du willst nur neue Schuhe haben" sagte er und Hanne wagte nicht, ihn von der Notwendigkeit eines Kaufs zu überzeugen. Sie zog ihre Zehen an, damit die Schuhe noch passten. Das hatte zur Folge, dass die Zehen Druckstellen bekamen, ja sogar die Mittelknochen sich verkrümmten. Als junges Mädchen schämte sie sich ihrer krummen Zehen, ob es in der Badeanstalt oder später - mit ihrer Familie - am Strand war. Sie versuchte immer, ihre Füße im Sand zu verstecken.

Hanne hatte viel Freude am Lesen. Da sie bei Tage arbeiten musste, blieb ihr nur der Abend. Da es immer spät wurde, wenn sie ins Bett kam, hatte sie nur wenige Minuten vor dem Einschlafen. Das hatte wieder seine Schwierigkeit. Ihr Vater durfte nicht sehen, dass noch Licht in ihrem Zimmer brannte, und da die Tür eine Glasscheibe hatte, war das schwerlich zu verbergen. Es blieb ihr also nur übrig, mit der Taschenlampe Zeile für Zeile unter der Bettdecke zu lesen bis ihre Augen zufielen. Auch am Sonntag hatte sie kaum Zeit für sich, denn meistens mussten alle Kinder mit zu den Großeltern, die fast jeden Sonntag besucht wurden. Der Großvater war ebenfalls ein strenger Mann. Die Großmutter versöhnte wohl, wenn sie den Kindern beim Abschied ein 5 RM-Stück aus ihrer Rocktasche in die Hand drückte.

Eine liebe, gute Freundin hatte Hanne in der Nachbarstochter Elsbeth. Es gab wohl keinen Weg zur Schule, kein Fest, das sie nicht gemeinsam erlebten. Alles, was sie bewegte, erzählten sie einander: ihre Zukunftsträume, ihre Sorgen - auch kleine - Mädchen haben Sorgen. Wenn sie sich verabschiedeten, gab es erst ein Hin und Her bis sie sich trennten. Diese Freundschaft sollte immer dauern. Als Elsbeth sich später verlobte, kam Hanne sich so verlassen vor, ein Mann war zwischen sie getreten. Hanne wusste, dass nun er die erste Rolle spielte und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als auch einen Menschen kennen zu lernen, dem sie - so wie Elsbeth ihrem Wilhelm - gehören dürfe.

Hanne war inzwischen 19 Jahre alt geworden. Ihr Leben bestand aus Arbeit von früh morgens bis spät abends. Sie fuhr den 38 PS Hanomag-Trecker. So in der Ernte, wenn er die Mähmaschine zog und später das Feld pflügte. Sie hatte an einem Schlepperlehrgang als einziges Mädchen unter 36 jungen Herren teilgenommen. Mit 17 Jahren erhielt sie auf Grund einer Sondergenehmigung ihren Führerschein. Oft blieben Menschen auf der Straße stehen und schauten zu, wenn sie auf dem großen Traktor sitzend das Feld pflügte. Eines Tages geschah, dass wieder einmal ein Auto anhielt und ein paar Herren ausstiegen. Sie baten Hanne, sie auf ihrem Traktor fotografieren zu dürfen und einen Bericht in der landwirtschaftlichen Zeitung zu bringen. Sie war aber zu schüchtern oder zu bescheiden. Sie sprang vom Traktor ab und bat die Herren, sie doch in Ruhe ihre Arbeit verrichten zu lassen. Damit am anderen Tage das Feld besät oder mit Stecklingen bepflanzt werden konnte, musste Hanne öfter bis spät in den Abend hinein pflügen. Dann sah man die Lichter des Traktors in der Dunkelheit Furche für Furche am Feld entlangfahren. Viele Gedanken gingen ihr dabei durch den Kopf. Wenn die Stille und der warme Sommerabend sie auch zufrieden machten, so fand sie ihr Leben, das sie führte, doch zu wenig lebenswert und es befiel sie manchmal eine Traurigkeit und eine Sehnsucht nach Schönem und auch nach einem Menschen, der sie aus diesem Dasein herausholen würde. Manchmal unterbrach das Kommen des Nachbarsohnes, der das Licht auf dem Felde gesehen hatte, ihre Gedanken. Er setzte sich zu ihr auf den Traktor und sie scherzten und tauschten einander ihre Probleme aus. Die Zeit verging dann schneller und es war leichter, wenn es auch Mitternacht wurde, bis Hanne ihre Arbeit geschafft hatte, das Feld gepflügt war. Sie hatte dafür gesorgt, dass kein Stillstand in dem Arbeitsablauf des nächsten Tages entstehen konnte. Wenn ihr Vater dann ein Lob aussprach, war Hanne ein wenig glücklich.

Eines Tages in der Mittagspause, das Essen war bereits eingenommen, ging Hanne auf die Diele, um dem Hund sein Futter zu bringen. Das Personal, das sich sonst um diese Zeit zurückgezogen hatte, sich kurze Zeit auszuruhen, stand auf der Diele vor einer Pferdestalltür und krümmte sich vor Lachen und rief Worte, die Hanne nicht verstand. Sie dachte: was mag da los sein und ging zu der Tür. Da sah sie in dem Stall, in dem sonst das Pferd stand, das auf der Tierschau den ersten Preis geholt hatte, den Knecht Alex und die Magd Frieda. Beide lagen mit bloßem Unterkörper im Stroh. Alex stöhnte vor Lust und alles Wehren half Frieda nicht. Angestachelt von dem Lachen und Zurufen des Personals befriedigte er sich vor aller Augen. Dass Hanne nicht laut anfing zu schreien, dass sie nicht in den Erdboden versank, sie stand wie versteinert. Dann stürzte sie davon, sie rannte auf ihr Zimmer und weinte vor Scham, Empörung und Zorn. Sie konnte mit niemandem darüber sprechen. An diesem Abend schrieb sie folgende Zeilen auf ein Papier:

"Seid nicht traurig, wenn ich morgen nicht mehr lebe, es ist mein Wunsch, heute Nacht zu sterben und ich werde den lieben Gott darum bitten ..." Und ganz innig betete Hanne an diesem Abend, doch sterben zu dürfen; in ihrem kindlichen Glauben war sie überzeugt, sie hoffte es wenigstens von ganzer Seele, der "Vater im Himmel" würde ihre Bitte erfüllen. Mit diesem Gedanken und glücklich über diese "Lösung" schlief sie tief und fest, als der Wecker um 5 Uhr sie aus diesem Schlaf riss. Sie machte die Augen auf und ihre Gedanken gingen zurück zu dem vergangenen Tag und Abend. Sie fand den Zettel unter ihrem Kopfkissen. "Ich lebe noch", dachte sie und war froh darüber, dass ihr Gebet nicht erhört worden war. Dann hörte sie auch schon die Stimme ihres Vaters, der sie zum Aufstehen ermahnte. Während sie in der Küche die Suppe kochte, entschloss sie sich, Alex und Frieda mit Verachtung zu begegnen.

Es waren einige Personen, die mit Essen und Trinken versorgt werden mussten. Deshalb wurde in jedem Jahr ein Schwein oder eine Kuh geschlachtet. Vor diesem Tag graute es Hanne, denn sie musste, wenn das Schwein durch einen Schuss in die Schläfe getötet war und der Schlachter einen Schnitt in die Schlagader gemacht hatte, das Blut in einem Eimer auffangen. Nachher wurde es zur Blutwurst verwendet. Damit das Blut nicht gerann, musste Hanne den warmen Strahl im Eimer schlagen und schlagen und die evtl. geronnenen Stücke herausnehmen. Sie schaute dabei in eine andere Richtung, um den mit Blut sich füllenden Eimer nicht sehen zu müssen. Wie hasste sie in diesem Augenblick ihren Vater, der diese Arbeit von ihr verlangte. Nur der von ihm stets geforderte unbedingte Gehorsam von kleinauf an half ihr, diese Minuten zu überstehen. Als sie zwei Tage später mit einer dicken Nadel und Faden das Fleisch in kleinen Stücken für den Rauchfang behandeln musste, verletzte sich Hanne: die Nadel war abgerutscht und in ihre Hand geglitten. Die Wunde fing sehr stark an zu bluten. Das war zu viel für Hanne, sie wurde ohnmächtig und bekam einen Starrkrampf. Sie hörte noch wie eine Magd sagte: "Sie stirbt". Die Ohnmacht dauerte nur wenige Minuten, die Wunde wurde verbunden und Hanne musste weiter machen. Die schwerste Arbeit war für Hanne das Helfen beim Reinigen der Kuhställe. Da der Bauer "Vorzugsmilch" lieferte, mussten die Ställe besonders sauber gehalten werden. Alle paar Tage wurden die Fliesen im Stall geschrubbt. Es konnte passieren, dass sich Stroh und Viehmist in den Kanälen festgesetzt hatte und sie verstopft waren. Da Hanne ja zart war und sehr dünne Arme hatte, konnte sie mit ihren Ärmchen in die schmalen Kanäle gelangen und den Mist mit ihren Händen herausholen. Fast ging es über ihre Kräfte, auch hier Gehorsam zu leisten.

Unter den Kühen war eine "liebestoll" geworden, auf dem Lande nennt man diesen Zustand "bulsk" (von Bulle). Der Vater schickte Hanne mit der Kuh zum Nachbarn, der einen prämierten Zuchtbullen besaß. Hanne kam mit traurigem Gesicht und vor Scham roten Wangen beim Nachbar an. Er merkte, dass es ihr peinlich war, bei dem Zeugungsakt dabei sein zu müssen und sagte zu ihr: "Geh du in die Küche und sprich mit meiner Frau, die Kuh kann unser Knecht halten". Sie schaute ihn dankbar an und der verständnisvolle Nachbar lächelte ihr wohlwollend zu.

Der Sommer war in diesem Jahr besonders heiß. Es war eine schwere Zeit, die Ernte einzubringen. Hanne war wie stets von morgens bis abends dabei. In der Gerste waren so viele Diesteln, dass ihre Beine ganz zerstochen waren, da half selbst die lange Leinenhose nichts. Es gab kein Pardon, es hieß durchhalten.

Als die Ernte vorüber war und der Ertrag auch gut, bekam Hanne von ihrem Vater ihr erstes langes Kleid, das so genannte "Erntekleid". Es sah aus wie ein griechisches Gewand aus blauem Taft. Sie freute sich wie ein Kind, und als dann ihr Bruder Heinrich, der als Fähnrich in Urlaub kam, sie zu einem Theaterbesuch einlud, es wurde die Oper "Aida" von Verdi gespielt, da war Hanne so glücklich wie sie es noch nie erlebt hatte. Es war ihr erster Theaterbesuch. Sie war überwältigt von der Schönheit des Theaters, der Musik, den Menschen, die sich für diesen Abend alle so elegant gekleidet hatten. An diesem Abend dachte sie: es gibt so viel Schönes auf dieser Welt , es lohnt sich zu leben, und sie war unsagbar glücklich, denn sie hoffte und war auch sicher, dass es nicht der letzte Theaterbesuch gewesen war, ihr Bruder würde sie oft dorthin mitnehmen.

 

Hanne beim Korn säen - mit Knecht Hermann

 

 

Hanne beim Korn mähen

 

Aber es kam anders und so schwer, wie es niemand erwartet hatte:

Am 1. September 1939 meldete der Rundfunk, dass im Osten der Krieg ausgebrochen war. Die deutschen Truppen marschierten bereits in Polen. Wie ein Schlag traf es alle. Hanne dachte an ihre Brüder, wie würde es ihnen ergehen, mussten sie dabei sein ?

Nun war plötzlich ihr eigenes Leben mit all seinen Wünschen so unwichtig. Die jungen Menschen in ihrem Ort wurden eingezogen, ebenso viele von dem Personal, es blieben nur ältere Leute zurück. Nun hieß es für Hanne, noch mehr als bisher dem Vater zur Seite zu stehen. Manchmal nannte er sie "meinen Jungen", denn seine Söhne waren nun Soldaten. Ihre ältere Schwester half der Mutter im Haushalt, Hanne war die Stütze im Außenbetrieb. Manchmal ging es fast über ihre Kräfte. Es passierte, dass sie eines Abends völlig zusammenbrach. Hanne hatte den ganzen Tag ein riesiges Feld Kartoffelreihen angefüllt, wobei sie den Pflug halbschräg halten musste und so die endlos langen Reihen entlangfuhr. Der kleine Knecht Hermann, er war inzwischen ein alter Mann geworden, hatte das Pferd am Kopf geführt. Sie tat ihm Leid. Er sagte oft: "Das ist doch keine Mädchenarbeit" und wurde böse auf den Bauer. Hanne besaß ein starkes Pflichtgefühl, sie wollte genau wie ihre Brüder ihren "Mann stehen", wo es für sie möglich war. Sie pflügte die Felder, säte mit der Maschine das Korn und erntete es wieder. Sie fütterte das Vieh und führte nebenbei die Bücher ihres Vaters oder schrieb auf der Maschine die Briefe, die ihr Vater ihr diktierte.

Doch mit Schaudern dachte sie an die Tage, wenn die abgekörten Eber kastriert wurden. Das waren junge, männliche Schweine, die zur Zucht nicht zugelassen wurden, da sie irgendwelche Mängel aufwiesen. Sie wurden dann zur Mast bestimmt, jedoch vorher kastriert. Es waren oft 30 bis 40 Stück an einem Tag. Ein Tierarzt führte diese Operation aus. Hanne mochte diesen Mann nicht. Sie wusste, dass er viel Alkohol trank und im Rausch dann seine Frau tyrannisierte. Es konnte geschehen, dass er die Betten zerschnitt oder das Geschirr aus dem Schrank zerschlug. Seine Nase war dick und rot und mochte er nüchtern noch so tüchtig im Beruf sein, er war ihr zuwider. Die Schweine wurden an allen vier Beinen aufgehängt und ihre Hoden dann herausgeschnitten. Hanne musste dann die große Wunde mit brauner Schmierseife einreiben, die den Heilungsprozess beschleunigen und die Wunde desinfizieren sollte. Der ganze Schweinestall stank nach Blut, Jod, Seife und Kot. Hätte Hanne gesagt: ich kann das nicht, ihr Vater würde es nicht abzeptiert haben. Sie fütterte nicht nur die paar hundert Schweine, sondern säuberte auch die Ställe. Während ihre Schwester in der Küche wirkte, tat sie ihre Arbeit in den Ställen. Beide standen sie um 5 Uhr auf und waren dann bis zum ersten Frühstück fertig.

Zum Füttern der vielen Schweine wurde ein großer Wagen mit Kartoffeln, Mehl und Wasser gefüllt, alles vermischt und dann fuhr sie an den Trögen lang, schüttete das Futter hinein. Bald hörte man im Stall das zufriedene Schmatzen der Tiere, die zuvor ohrenbetäubend geschrien hatten. Im Winter mussten die Kartoffeln aus einem Silo herausgehievt werden. Es roch dann sauer und muffig im Stall. Da das Silo immer leerer wurde und Hanne immer tiefer hineinsteigen musste, reichten fast ihre Arme nicht, die Schüppe mit den Kartoffeln hoch genug zu heben. Sie schaffte es jedoch immer wieder, den Futterwagen zu füllen. Während die Schweine schmatzend an ihrem Trog standen, säuberte Hanne ihren Stall. Sie warf den Mist durch eine Luke nach draußen auf den Misthaufen. Die Arbeit war schwer. Nicht selten fiel eine Träne auf die Erde. Wenn dann die Tiere im frischen Stroh, das sie vom Boden holte, satt und zufrieden grunzend sich niederlegten, konnte sie wieder lachen. Eine Freude bereiteten ihr die kleinen Ferkel, wenn sie im sauberen Stall an der Brust ihrer Mutter lagen und ausgestreckt und gierig die Muttermilch einsogen. Damit sie mit ihren kleinen, spitzen Zähnchen der Mutter nicht wehtun konnten, musste Hanne ihnen sogleich nach der Geburt mit einer besonderen Schere die Zahnspitzen abkneifen. Dabei hatte sie eine Fertigkeit entwickelt, dass Hermann ihr nicht schnell genug die kleinen Ferkelchen fangen und zureichen konnte.

Neben dem "Mutterstall", so nannte sie den Stall mit den Kleinen, war eine Box für ein frisch geborenes Kälbchen. Auch dieses unterlag ihrer Obhut. Es war manchmal gar nicht so einfach, das bockige kleine Etwas zum Trinken zu bringen, und mancher Liter Milch wurde dabei verschüttet. Hanne nahm dann ihre Finger, steckte sie dem Kälbchen in den Mund, und während es an ihnen leckte, steckte sie die Hand in die Milch, um dem Kälbchen so zu zeigen, wo es zu trinken hatte.

Abends scheute Hanne in den Stall zu gehen. Es konnte passieren, dass ihr eine Ratte über den Weg lief. Wenn diese Tiere zu sehr zugenommen hatten, gab es eine "Rattenschlacht". Die Männer banden sich die Hosen unten zu. Bewaffnet mit einem Stock ging es dann bei schwächster Beleuchtung in den Stall. Die Beute war oft recht erheblich.

Für den Kuhstall hatte der Bauer einen Schweizer eingestellt, der die 24 Kühe melkte und auch den Stall sauber hielt. Er hatte aber ein Laster: den Alkohol. Es geschah öfter, dass er am anderen Morgen noch betrunken war und seine Arbeit nicht verrichten konnte. Dann mussten Hanne und ihre Schwester einspringen und die Kühe melken. Dass nach der ungewohnten Arbeit dann die Arme schmerzten und die Finger anschwollen, spielte keine Rolle. Ihre Mutter sagte dann mitleidig: "ihr armen Kinder, was müsst ihr nicht alles leisten". Was half es, das Personal konnte sich einen Ausfall erlauben, die eigenen Kinder aber mussten immer zur Stelle sein. Als eines Nachts das Telefon klingelte und sich ein Wirt im nahen Ort meldete mit der Nachricht, der Schweizer habe sich im betrunkenen Zustand mit jemandem geschlagen, wobei er einen Messerstich in der Nähe des Herzens abbekommen habe und ins Krankenhaus gebracht werden musste, war für Hanne und ihre Schwester wieder einmal die Nacht vorüber. Diesmal dauerte es ein paar Wochen bis der Schweizer wieder arbeitsfähig war. Dennoch wagte der Bauer nicht, ihn zu entlassen, da die Arbeitskräfte knapp geworden waren, es wurden zu viele Soldaten gebraucht.

Da der Bauer die "bevorzugte" Milch lieferte, wurden die Kühe regelmäßig untersucht, die Milch wurde auf Sauberkeit und Geschmack geprüft. Er hatte schon dreimal auf einer Ausstellung ("Reichsnährstandsausstellung") einen ersten Preis geholt. Diese Milch wurde zu einem höheren Preis und in Flaschen an die Stadtbevölkerung geliefert. Der Milchwagen war weiß gestrichen und hatte die Aufschrift: Milch, Butter, Eier und Sahne, 1. Preis. Der Fahrer trug einen weißen Kittel und brachte den Kunden das Gewünschte direkt ins Haus. Als dann auch der Fahrer ausfiel - er wurde ebenfalls Soldat - musste Hanne diese Aufgabe übernehmen. Sie kannte die Stadt, in der sie die Milch verteilen musste, da sie hier zur Schule gegangen war. Im Sommer machte es ihr Freude, sie kam mit Menschen zusammen, die Kunden waren alle nett zu ihr. Nur Frau Müse, die mochte Hanne nicht. Sie wohnte im zweiten Stock. Wenn Hanne mit ihrer Milchkanne oben angelangt war und schellte, streckte Frau Müse ihren Kopf aus der Tür und sagte: "Heute brauche ich keine Milch". Dann kochte Hanne schon mal vor Wut, denn die Kundin hätte sie - wie die anderen es auch machten - durch einen Zettel an ihrem Briefkasten unten im Flur verständigen können. Nach dem Sommer kam der Winter mit viel viel Schnee und starkem Frost. Die Straßen waren schwer befahrbar. Das Pferd Rosinante schaffte es nicht allein, den vollen Milchwagen den Berg hinaufzuziehen. Dann musste der Knecht Hermann mit einem zweiten Pferd Vorspann leisten. Wenn sie oben auf dem Berg angelangt waren, ging Hermann mit seinem Pferd nach Hause und Hanne fuhr allein weiter, denn nun ging es bergab bis in die Stadt. Ihre Füße waren trotz des gefütterten Fußsacks eiskalt geworden. Die Tränen standen ihr oft in den Augen. Doch was half es, sie musste sich dann warm laufen. Mit der Milchkanne in der Hand lief sie von Haus zu Haus. Manchmal traf sie ein mitleidiger Blick oder eine Kundin bot ihr eine heiße Tasse Kaffee oder Kakao an, die sie dankend gern annahm. Sie konnte sich dann zudem einmal richtig durchwärmen. Auf den Nebenwegen lag so viel Schnee, dass Rosinante kaum den Wagen ziehen konnte. An ihren Füßen hatte sich ein dicker Schneekloß gebildet. Hanne nahm ein Eisen, das sie zu diesem Zweck im Wagen liegen hatte und klopfte dem Pferd den Schneeballen von seinen Hufen. Rosinante war an sich ein faules Pferd, leicht wurde ihr das Ziehen eines Wagens zu viel. Doch der Milchwagen konnte noch so beladen sein, ihn ließ sie nie stehen, das war ihr Stolz. Natürlich kannte auch Rosinante jeden Kunden, und während Hanne von einem Haus zum anderen lief, ging sie ihren Weg auf der Straße weiter, auch wenn sie an gefährlichen Kreuzungen die Straße überqueren musste. Sie wusste genau, wann sie weitergehen durfte, da konnte jeder Polizist zuschauen, er wäre nur des Lobes voll gewesen. Tag für Tag, Sonntag für Sonntag, fuhr Hanne mit ihrem Milchwagen in die Stadt.

 

 

Hanne mit Pferd Rosinante

 

Diese Tatsache brachte sie zum Nachdenken. Der Vater hatte verlangt, dass seine Kinder mindestens alle zwei Sonntage mit ihm zur Kirche gingen. Er hielt das für unbedingt notwendig. Wo war nun die Notwendigkeit in Bezug auf Hanne ? Wie war es nun mit ihrer Teilnahme am Gottesdienst? War das Geschäft nun wichtiger? Hanne fand keine Antwort, ohne ihren Vater belasten zu müssen.

Jeden Abend schrieb Hanne einen Brief an einen ihrer Brüder. Sie nummerierte ihre Briefe und notierte kurz dessen Inhalt. Die Briefe waren oft wochenlang unterwegs. Wenn dann ihre Brüder den Empfang des Briefes Nr. ... bestätigten, wusste sie, welche Nachricht sie erhalten hatten. Zugleich ersah sie, ob ein Brief verloren gegangen war.

Fleißig schickte Hanne ihren Brüdern Päckchen. Sie hatten sich lieb und hielten fest zusammen. Da sie alle unter der Strenge des Vaters zu leiden hatten, war ihr Zusammengehörigkeitsgefühl besonders ausgeprägt.

Es fiel den Brüdern nicht schwer, Soldat zu sein, sie hatten Gehorchen gelernt. Die Pflichterfüllung war das erste Gebot von Jugend an gewesen.

Hannes Bruder Heinrich schrieb, dass er in Urlaub kommen würde und einen Kameraden mitbringen möchte. Ihre Freude war stets unsagbar groß, wenn ein Bruder in Urlaub kam. Hanne verliebte sich in den jungen Offizier. Er sah gut aus, war charmant und machte keinen Hehl daraus, dass auch er sich in Hanne verliebt hatte. Sie war ja auch ein fröhliches und unschuldiges Mädchen. Ihre Haare hingen in sechs langen Locken herunter. Er sah sie mit verliebten Augen an. Hanne hörte nur zu gern seine schmeichelnden Worte und war ihrem Bruder dankbar, diesen jungen Herrn mitgebracht zu haben.

Es waren frohe Tage, obwohl die Arbeit ja weiter getan werden musste. Wie leer kam ihr das Haus vor, als der Urlaub zuende war und beide wieder fort waren. Als nach kurzer Zeit ein Brief von dem jungen Leutnant eintraf, kannte Hannes Freude keine Grenze. Sie steckte den Brief an ihr Herz und trug ihn den ganzen lag bei sich. So oft sie konnte, las sie ihn immer wieder. Der Briefbogen war schon grün gefärbt vom Futter des Couverts. Es war heiß an dem Tag, und sie trug ihn doch an ihrem Körper. Die Zukunft sah plötzlich so rosig aus, die Arbeit flog ihr nur so von der Hand. Aber verbergen musste sie ihre Freude, der Vater durfte von dem Brief nichts wissen. Der junge Leutnant war ja kein Bauer und Hanne wusste, dass ihr Vater sie nur einen Bauern heiraten lassen würde. Zum Osterfest schickte Hanne außer an ihre Brüder auch dem jungen Leutnant ein Päckchen mit dem Absender: Osterhase. Er sollte nicht wissen, dass sie der Absender war, sie wollte nicht aufdringlich erscheinen. Dennoch hoffte sie im Stillen, dass er es erraten möchte. Und so war es auch. Der nächste Brief von ihm hatte die Anrede: "Mein lieber, kleiner Osterhase"! Hanne hatte nun vier Soldaten, denen sie regelmäßig mit ihren Briefen eine Freude machen konnte. Sie dachte viel an ihre Brüder und an ihren "Freund". Einmal würden sie sich ja wieder sehen. Als aber der nächste Urlaub fällig war, kam ihr Bruder allein. Hanne wagte nicht, ihn nach dem Grund zu fragen. Sie konnte kaum ihre Tränen verbergen. Sie war so niedergeschlagen wie lange nicht mehr. Wie ein Schlag trafen sie dann die Worte ihres Bruders: "Leutnant Schneider hat sich verlobt". Hanne rannte auf ihr Zimmer und weinte vor Kummer und Enttäuschung. Ihr Bruder beobachtete sie und war besonders lieb zu ihr. Als Hanne sich gefangen hatte, sagte er: "Es stimmt nicht, dass Leutnant Schneider sich verlobt hat, aber du bist zu schade für ihn. Ich musste so hart sein, vergiss ihn"! Hanne wusste, dass ihr Bruder es stets gut mit ihr meinte, sie glaubte ihm auch jetzt. Es war aber so schwer, ein bisschen Glück so schnell wieder zu verlieren. Hanne war nun 21 Jahre alt und immer nur zu Hause gewesen. "Du musst mal heraus, was anderes sehen und kennen lernen" sagte ihr Bruder Heinrich, "ich besorge dir eine Stelle als Haustochter in einer guten Familie". Er wusste, dass der Vater nichts unternehmen würde, was Hanne von ihm entfernen könnte. Heinrich setzte eine Annonce ins Fachblatt: "Suche für meine Tochter eine Stelle als Haustochter in einer guten Familie". Er erhielt einige Zuschriften, die er Hanne nummeriert nach "Qualität" zuschickte. Hanne sollte dann selbst an ein paar Adressen schreiben. Sie legte ein Foto von sich bei. Herr König aus Berlin, er war ein pensionierter Generalmajor, antwortete ihr so nett, dass sie gleich Vertrauen zu ihm hatte und sich entschloss, in diese Familie zu gehen. Frau König erzählte ihr später, dass sie ängstlich gewesen sei, da sie so streng auf dem Foto ausschaue, aber die Röschen an ihrem Kleid hätten sie dann versöhnt. Sie habe gedacht: wer solche Röschen am Kleid trägt, kann doch nicht böse sein. So kam Hanne dann von Tendorf nach Berlin. Ob das wohl ein Sprung war?

 

 

  

 

Hanne

und

die

Röschen

am

Kleid

 

 

Da die Ernte eingebracht war und der Winter vor der Tür stand, willigte auch der Vater ein, wenn es ihm auch noch so schwer wurde. Er selbst wollte Hanne aber dorthin begleiten, um zu sehen, wo seine Tochter die nächsten Monate verbringen würde. Als sie in Berlin ankamen, war Hanne überwältigt von der großen, schönen Stadt. Sie kam aus dem Staunen nicht heraus. Es sollte der Beginn einer schönen Zeit für sie sein.

Ihr Vater blieb nur zwei Tage in Berlin. Er hatte sich überzeugt, dass seine Tochter bei ehrwürdigen Leuten untergebracht war. Aber auch der alte General hatte ihn gleich durchschaut. Er sagte später zu Hanne: "Wenn Sie mal heiraten, bedauere ich Ihren Mann". Hanne war entsetzt, sie hatte diese Worte falsch verstanden. Der General merkte das und erklärte ihr: "ihr Vater wird sehr eifersüchtig sein, wenn er Sie abgeben muss". An seine Worte sollte Hanne später denken!

Als ihr Vater abgereist war, kam sich Hanne doch etwas verloren vor. Der Unterschied von Tendorf und Berlin war sehr groß und sie bekam ein wenig Angst vor der Großstadt. Es dauerte aber nicht lange und Hanne hatte sich eingelebt. Frau König war eine feine, kluge und liebenswürdige Dame. Beide hatten sie gleich ins Herz geschlossen. Hanne fühlte sich bei ihnen wohl und hatte den festen Willen, diesen lieben Menschen eine gute Stütze zu sein und ihnen Freude zu bereiten. Beide Seiten wussten, dass sie einander nicht enttäuschen würden. Hanne erfuhr, dass der Sohn auf einer Dienstreise war und in ein paar Tagen zurückkehren würde. Als es an einem Abend läutete und Hanne die Etagentür öffnete, stand ein schneidiger Offizier vor ihr, der sich als "Sohn des Hauses" vorstellte. Hanne klopfte das Herz, sie kam sich plötzlich so klein vor. Würde sie ihre Aufgabe hier auch erfüllen können? Sie war schließlich auf dem Lande groß geworden. Zwar hatte der Vater sie streng erzogen und das Arbeiten beigebracht. Sie wusste auch, wie man sich zu benehmen hatte, doch die Gewohnheiten solch feiner Leute waren ihr fremd geblieben. Als sie abends in ihrem Bett lag, wollten die Zweifel nicht schwinden. Fast bereute sie ihren Entschluss, von Tendorf fortgegangen zu sein.

In der Nacht gab es Fliegeralarm. Für eine Stunde mussten die Bewohner in den Luftschutzkeller. Am anderen Morgen wurde von einem zerstörten Haus durch eine Brandbombe gesprochen. Es sollten noch viele Fliegerangriffe und viele Stunden im Keller folgen.

Es machte der Familie König, und besonders dem jungen Herrn Spaß, Hanne Berlin mit all seinen Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Sie konnte nur staunen und nahm alles begierig in sich auf. Wenn sie mit Herrn General, der Pour le mérite - Träger war und den Orden in Miniatur auf seinem Revers trug, an der Ehrenwache vorüberging, präsentierte diese Wache, um den General zu ehren. Hanne war dann stolz auf ihren Begleiter und empfand kindliche Liebe und Verehrung für den alten Herrn.

Eines morgens wachte sie mit Fieber und starken Halsschmerzen auf. Der Arzt wurde gerufen. Er untersuchte sie gründlich - das erste Mal in ihrem Leben. "Sie haben eine Angina und ferner ein vergrößertes Herz" sagte der Arzt "ein sog. Sportlerherz". Zwar hatte Hanne nicht übermäßig Sport getrieben; ihre körperlichen Anstrengungen waren die Arbeit auf dem Hofe gewesen. Bei der liebevollen Pflege von Frau König erholte sie sich rasch.

Der Grunewald lag im tiefen Schnee, als der junge Herr König und Hanne einen Spaziergang durch ihn machten. Sie waren ausgelassen wie Kinder, bewarfen sich mit Schnee und hatten viel Freude an diesem schönen Nachmittag. Es war nach diesem fröhlichen Tag, als der junge Herr - er hieß Joachim - Hanne ganz plötzlich in die Arme nahm und ihr einen Kuss gab. Hanne wehrte sich nicht, sie war glücklich, fühlte sich geliebt und auch sie hatte Joachim gern. Eine wunderschöne Zeit begann. Hanne wurde sicher, ihr Selbstbewusstsein stieg. Sie wurde geachtet, durfte Liebe und Zärtlichkeit empfangen. Sie lernte Berlin und seine Umgebung kennen. Sie besuchte mit Joachim Theater und Konzerte. Hanne genoss alles mit dankbarem Herzen.

Das Weihnachtsfest dieses Jahres rückte näher. Ihr Vater hatte verlangt, dass sie zum Fest nach Hause kommen sollte. Es wurde ein sehr schönes Fest, denn ihr Bruder Heinrich und einen Tag später auch Peter und Edwin waren in Urlaub gekommen. Heinrich hatte ihr einen Pelzumhang mitgebracht. Den würde sie in Berlin gut gebrauchen können. Peter schenkte ihr einige Bücher. Nun hatte sie ja viel Zeit zum Lesen und brauchte auf den Vater keine Rücksicht zu nehmen.

Als der Weihnachtsurlaub zu Ende war und die Brüder wieder fort waren, freute auch Hanne sich wieder auf die lieben Menschen in Berlin, die schon auf sie warteten. Der alte Herr König holte sie vom Bahnhof Zoo ab. Hanne hätte ihn am liebsten ganz fest gedrückt. Sie führte nun ein angenehmes Leben. Was im Haushalt zu tun war, ging ihr schnell von der Hand, sie war ja Arbeit gewohnt. Hanne hatte viel Zeit für sich. Viel lernte sie dazu aus Büchern und aus dem vielen neuen, das sie erlebte in Begleitung dieser drei lieben Menschen. Joachim war einige Jahre älter als Hanne. Wenn sie ihn auch sehr lieb hatte, kamen doch immer wieder Zweifel, ob er der Richtige war; besonders, wenn sie mit jüngeren Herren zusammenkam. Sie war ihm dankbar, dass er ihre Zurückhaltung respektierte. Manchmal wurde es ihm sehr schwer, und Hanne wäre fast der Versuchung erlegen, ihm alles zu schenken. Dann stand ihr aber das Bild ihres Vaters vor Augen. Sie wusste, er würde sie umbringen, wenn sie ein Kind erwartete. Diese Angst ließ sie nie los. Für ihren Vater war es selbstverständlich, dass Hanne eines Tages einen Bauern mit einem großen Hof heiraten würde. Das wusste auch Joachim.

In diesen Tagen meldete sich der Nachbarssohn aus Tendorf in Berlin. Er hatte dort einige Stunden Aufenthalt. Hanne war glücklich, jemanden aus der Heimat, dazu noch ihn, den sie als Kind gern hatte, hier zu sehen. Fröhliche Stunden verbrachten die beiden in Berlin. Als Willi wieder abgereist und sie an diesem Abend in ihrem Bett lag, fühlte sie Heimweh nach Tendorf. Sie sehnte sich nach dem stillen Ort, den einfachen Menschen, die arbeiteten und beteten und mit ihrem Leben zufrieden waren. Sie hasste plötzlich die Großstadt, wo ein Mensch den anderen kaum kennt, auch wenn sie unter einem Dach wohnen. Trotz der lieben Familie König kam sie sich an diesem Abend sehr verlassen vor. Selbst der Besuch ihres Bruders Heinrich einige Tage später konnte ihr Heimweh kaum mildern.

Frau König merkte die seelische Verfassung Hannes. Sie tat alles, um sie zu zerstreuen. Sie ging mit ihr in gute Kinovorstellungen, und Joachim besuchte mit ihr fast abendlich Theater. Es gab ja einige davon in Berlin. Z. B.: Theater des Volkes zeigte: "Ballnacht in Florenz". Im Europahaus wurde "Frühling in Wien" mit Marika Rökk gegeben. Das Metropol zeigte: "Frauen im Metropol" und im Wintergarten, den Hanne besonders liebte: "Trockenkursus". Es waren alles leichte Stücke, und das war für Hanne jetzt gerade richtig. Sie war bald wieder fröhlich und zufrieden. Morgens holte sie stets frische Brötchen aus der Bäckerei um die Ecke. Als sie eines Morgens die Treppe herunterlief - Familie König wohnte im dritten Stock - schreckte sie plötzlich zusammen: auf der untersten Stufe lag ein Mann. "Ob er schläft", dachte Hanne. Es war ihr unheimlich, sie rief: "Hallo, Hallo" der Mann rührte sich nicht. Sie ging langsam näher, und dann hatte sie keinen Zweifel mehr: der Mann war tot.

Das Licht im Treppenhaus brannte wegen der angeordneten Verdunkelung recht spärlich. Hanne zitterte vor Kälte und Entsetzen, sie rannte die drei Treppen wieder hoch. Frau König rief die Polizei. Es hatten sich inzwischen schon andere Hausbewohner um den Toten gekümmert. Es waren Menschen, die Hanne noch nie gesehen hatte, und doch wohnten sie unter einem Dach. Auch das erschütterte Hanne. Die Polizei stellte fest, dass er nicht in diesem Hause wohnte. Es wurde vermutet, dass es ihm auf der Straße schlecht geworden war und sich im Hause hatte vielleicht nach Hilfe umsehen wollen. Auf der untersten Stufe war er dann einem Herzschlag erlegen. Noch tagelang konnte Hanne den Gedanken an diesen armen, einsamen, so verlassen sterbenden Menschen nicht loswerden.

Hanne durfte nur - auch das Arbeitsamt hatte es nicht länger erlaubt - bis zum Frühjahr in Berlin bleiben, dann wurde sie wieder auf dem Hofe gebraucht. Trotz der vielen schönen Stunden, die sie hier erlebt hatte, freute sie sich wieder auf Tendorf.

Während dieses halben Jahres in Berlin war Hanne eine andere geworden. Sie war nicht mehr das schüchterne kleine Mädchen, sie war eine selbstbewusste junge Dame geworden. Das hatte ihr Bruder ja auch bezwecken wollen. Der Abschied von Familie König wurde ihr nicht leicht. Sie wusste aber, dass sie hier Freunde gefunden hatte, die sie bestimmt noch oft wieder sehen würde. Beim Abschied sagte Frau König ihr folgendes Gedicht:

 

Goodbye!

We say it for a moment and for years,

we say it smiling and choked with tears,

we say it coldly, say it with a kiss,

but yet we have no other word than this:

"Goodbye!"

 

Zu Hause war Hanne wieder die rechte Hand ihres Vaters. Der Krieg hatte auch in ihrem Heimatdorf Opfer gefordert. Frau Kisker musste gleich zwei ihrer Söhne verlieren. Dass eine Mutter das überhaupt aushalten konnte!

Hanne gehörte nun dem Roten Kreuz an. Die Fliegerangriffe nahmen zu. Es waren nicht mehr einzelne Häuser und Fabriken, die zerstört wurden, große Teile der Städte lagen in Schutt und Asche. Nach einem schweren Angriff auf die Stadt Bielefeld wurde Hanne als Rot-Kreuz-Helferin eingesetzt. Auf Tragen brachten sie Verletzte ins Krankenhaus. Der Flur war schon voll von stöhnenden Menschen. "Schwester, ich friere" rief ein kleiner, verletzter Junge, der auf einer Trage lag und wartete, dass man ihn ärztlich versorgen würde. Sein rechtes Bein hatte eine große Wunde. Hanne holte schnell ihren Mantel und deckte ihn damit zu. Sie wurde ins Operationszimmer gerufen. Hörte, dass der Arzt zu einem auf dem Tisch liegenden Mann sagte: "Ich muss Ihnen das Bein abnehmen". Der Mann schrie fürchterlich. Hanne hielt seinen Oberkörper, schaute ihn lieb an und sprach mit ihm bis die Schwester kam, die ihm die Narkose gab. Hanne wurde hinausgeschickt, um den Leichtverletzten zu helfen. Sie hatte gelernt, schnell und gut Verbände anzulegen.

 

 

 

Das Haus in Berlin, in dem Hanne gewohnt hat

 

 

Ihr einziger Gedanke war: helfen und ein wenig trösten. Ihre Schürze war längst voll Blut und Schmutz. Nach Stunden hieß es: die Helferinnen von Tendorf sollten abgelöst werden. Hanne ging zu dem Verletzten, dem sie ihren Mantel gegeben hatte. Sie hatte eine Decke gefunden und wollte ihn damit zudecken, um ihren Mantel zu nehmen. Sie beugte sich zu ihm und sah, dass der Junge tot war. Ihm kam jede Hilfe zu spät, er hatte wohl zu viel Blut verloren. Hanne faltete die Hände, doch sprechen konnte sie nicht.

Sie wurde gerufen. Die anderen Kameradinnen waren schon auf dem LKW, der sie nach Tendorf fahren sollte. Das Essen, das ihre Mutter ihr brachte, schob sie von sich. Sie konnte nichts zu sich nehmen. Die ganze Schwere der vergangenen Stunden wurde ihr bewusst. Dann kamen die erlösenden Tränen. Sie weinte und weinte. Ihre Mutter nahm sie ganz fest in ihre Arme.

Hannes jüngster Bruder Edwin war auf der Flugzeugführerschule, er wollte Flieger werden. In den Augen ihrer Mutter war die große Sorge um ihre Söhne zu lesen. Ihr ältester Sohn Heinrich hatte das Eiserne Kreuz l. Klasse bekommen. Es wurde so viel von dem Stolz gesprochen. Die Mutter wusste, dass ihre Söhne sich für ihr Vaterland einsetzen würden. Diese Gewissheit machte ihre Angst und Sorge noch größer. Wie kann eine Mutter Stolz bei dem Tode ihres Kindes empfinden?! Eine Mutter kennt dann nur Schmerz! Als die Nachricht von der Verwundung ihres Sohnes Peter sie erreichte, war ihr Herz voller Leid. Gottlob war die Verwundung nicht schwer: ein Granatsplitter hatte den linken Unterarm verletzt. Er hatte viel Glück gehabt! Die Wunde heilte schnell und Peter durfte in Genesungsurlaub nach Hause fahren.

Peter besaß eine besondere Veranlagung: er träumte Ereignisse, die ihn betrafen, oft voraus. Vor seiner Abiturprüfung träumte er die Fragen, die ihm gestellt wurden. Er bestand das Abitur mit Bravour. Als er Soldat wurde, sah er sich im Traum mit dem linken Unterarm verbunden im Lazarett liegen. Nun war auch das eingetroffen. Was ihn und alle, denen er seinen Traum, den er im Lazarett hatte, erzählte, schwer belastete war der Gedanke, dass auch dieser in Erfüllung gehen könnte: Er war zu einer anderen Waffengattung gekommen, hatte eine andere Uniform bekommen und mit seiner Abteilung in Russland eingesetzt. Er hatte einen Schlag am Kopf verspürt und war dann aufgewacht. Nach diesem Traum sagte Peter immer: "Ich komme nicht wieder, das war mein Tod". Er sagte dies mit einer Sicherheit, die alle erschütterte.

Als Peter sich nach seiner Genesung bei seiner Dienststelle melden musste, wurde er tatsächlich zu einer anderen Einheit, die eine andere Uniform trug, versetzt. Er kam dann bald an die Ostfront. Beide Söhne: Heinrich und Peter waren nun in Russland. Es dauerte immer lange bis Nachricht von ihnen kam. Hanne schrieb jeden Abend Briefe an ihre Brüder. Sie wusste, was ein Gruß aus der Heimat für die Soldaten bedeutete. Hanne verrichtete jede Arbeit, die anfiel. Ihr Vater nannte sie oft: "meine große Hilfe". Die Nachbarn nannten sie - es klang mitleidsvoll - "des Bauern Erstknecht". Sie hatte neben der Arbeit auch die Verantwortung, dass alles richtig und schnell erledigt wurde. Der Verwalter war längst zur Front eingezogen. Sie musste auch mal energisch werden, was ihr die Bezeichnung "unser Feldwebel" eingebracht hatte. Auf dem Hofe arbeiteten kriegsgefangene Polen, Franzosen, Russen und strafgefangene Deutsche. Zu dem Hof gehörte ein Justiz - Gefangenenlager für leichtere Vergehen. Diese Gefangenen wurden bei den Bauern eingesetzt, da die Arbeitskräfte knapp geworden waren. Natürlich machte sich einer von ihnen schon mal einen Spaß daraus, Hanne zu ärgern. Ein Franzose nannte sie böswillig "unser Chef". Es war beim Rübenernten auf dem Felde. Hanne ärgerte sich darüber. Halb aus Ernst, halb aus Spaß, trat sie ihn mit ihrem Fuß, da sie ihre beiden Hände voll Rüben hatte. Ungewollt traf sie eine empfindliche Stelle. Sie ahnte nicht, was sie damit angerichtet hatte. Der Franzose stöhnte laut auf, wurde zornig und rief: "Tun Sie das nicht wieder !". Dann warf er Hanne auf die Erde und drückte ihre Schultern fest auf die Erde. In diesem Augenblick ging ihr Onkel mit zwei Mitjägern in einiger Entfernung über das Feld. Sie waren auf der Jagd nach Hasen. Aus der Entfernung sahen sie Hanne auf der Erde liegen, dazu den Mann, der seine Hände auf Hannes Schultern liegen hatte. Anstatt sich über diesen Vorfall zu informieren, also mit Hanne darüber zu sprechen, hatten sie nichts "Besseres" zu tun, als ihrem Vater von dem, was sie zu sehen geglaubt hatten, zu erzählen. Als Hanne an diesem Abend die Schweine fütterte, stand plötzlich ihr Vater neben ihr. "Sag, dass es nicht wahr ist" sagte er, schrie es fast "sonst erschieße ich dich und dann mich"! Seine Augen waren voller Zorn, er war zu allem bereit. Hanne schaute ihren Vater fassungslos an. Sie zitterte, obwohl sie nicht wusste, warum sie eventuell getötet werden sollte. Der Vater sah ihr unschuldiges Benehmen und fragte noch einmal: "ist es wahr?". Hanne fasste nun den Mut zu fragen, was denn wahr sein sollte? Sie hörte von der hässlichen Verleumdung. Der Onkel hatte ihrem Vater erzählt, er habe gesehen, dass der Franzose auf Hanne gelegen habe. Sie schaute ihrem Vater fest in die Augen und erzählte ihm von dem harmlosen Streit, den sie auf dem Felde gehabt hatte und was sie in ihrem Ärger dem Mann angetan. Hannes Vater glaubte ihr. Für sie aber war von diesem Tage an die große Verehrung, die sie sonst dem Verwandten entgegengebracht hatte, verschwunden.

Auf dem Hofe waren sechs Remonten - junge Reitpferde - untergebracht. Sie gehörten zu einem Gestüt. Wegen der Luftangriffe waren sie evakuiert worden. Es waren wunderschöne Tiere. Hanne verspürte große Lust, sich auf eins dieser. Pferde zu setzen. Gedacht, getan. Dies sollte sie bald bereuen. Das Pferd war an seinen Wärter gewöhnt, der ebenfalls auf dem Hofe untergebracht war und die Tiere betreute. Es mochte wohl die unsichere Hand Hannes nicht. Es sprang hoch, warf sie ab, und gerade an der Stelle, wo auf dem Hofe ein großer Steinhaufen lag. Sie schlug ihre Kniee auf, die arg bluteten und schmerzten. Zum Glück war nichts gebrochen. Dieses Erlebnis mit dem Pferd "Abdul Krim" - sie hatten alle hochtrabende Namen - hatte genügt, dass sie nie wieder das "Glück auf dem Rücken der Pferde" suchte. Sie war für einige Tage arg gehbehindert. Sie wagte auch nicht einmal, über ihre Schmerzen in den Kniegelenken bei der Arbeit zu klagen, ihr Vater hatte ihren Leichtsinn schon genug gerügt.

In dem Schweinebestand hatte der Bauer eine Sau, die ihre Ferkel nicht "zur Welt bringen" konnte. Ein Tierchen hatte so den "Ausgang" versperrt, dass auch der Tierarzt ihr nicht helfen konnte, ohne einen "Kaiserschnitt", vorzunehmen. Das Mutterschwein wurde auf einen flachen Tisch gelegt, festgebunden, narkotisiert. Als es fest schlief, wurde der Bauch aufgeschnitten und zwölf kräftige Ferkel herausgeholt. Als das Tier erwachte, war sein Bauch bereits zugenäht. Es war sicherlich sehr erstaunt, ein Krabbeln und Saugen an seiner Brust zu spüren. Die Sau erholte sich schnell, ihre Ferkel wuchsen kräftig heran.

 

*

 

Der Postbote wurde immer sehnlichst erwartet. Wenn ein Gruß von der Front angekommen war, wartete Herr Menke - er führte die Poststelle in Tendorf - mit der Zustellung nicht. Er gab schon telefonisch den Angehörigen Bescheid, die den Brief dann sofort abholten. Die Briefe waren meistens schon einige Tage, gar Wochen unterwegs. Es war aber ein Lebenszeichen von den Soldaten. Das ganze Dorf kannte die Sorgen der einzelnen Familien. Jeder wusste von dem anderen, wo der Mann oder der Sohn eingesetzt war und alle fühlten mit, wenn eine böse Nachricht eine Familie traf.

Hannes Bruder Edwin hatte geschrieben, dass er nun Flugzeugführer sei und bald in Urlaub käme. Das war wieder ein Lichtblick. Hanne konnte sein Kommen kaum abwarten.

Doch dann klingelte das Telefon. Hanne hörte am anderen Ende die Stimme des Mannes, der in Tendorf die schreckliche Aufgabe hatte, die Familien zu benachrichtigen, wenn ein Angehöriger im Kriege gefallen war. Hannes Herz klopfte rasend. Der Mann war so ernst. Er fragte nach dem Vater, ob er ihn sprechen könnte. Hanne hoffte noch, dass sein Anruf einen geschäftlichen Grund haben könnte. Als der Vater aber sein Kommen ankündigte, war es Gewissheit, dass sie einen ihrer Brüder verloren hatten. Edwin war mit dem Flugzeug abgestürzt. Er war im Nebel gegen einen Berg geflogen. Das Schicksal hatte nun auch Hannes Familie getroffen. Edwin war der Liebling der Mutter gewesen. Er war ein sehr gut aussehender und besonders fröhlicher Mensch. Für jeden hatte er ein freundliches Wort, kein Wunder, dass er sehr beliebt war. Wenn seine Mutter mit ihm in dem Gig - der zweirädrigen Kutsche - in die Stadt oder zu Verwandten fuhr, war sie mit Recht stolz und glücklich, solch einen Sohn zu haben. Hanne glaubte, ihre Mutter könnte den Verlust ihres Sohnes nicht überwinden, sie sank völlig zusammen. Hanne versuchte sie zu trösten. "Lasst mir ein wenig Zeit" sagte ihre Mutter. Es war noch keine Stunde vergangen, als sie aufstand, wieder ihre Arbeit verrichtete und nun versuchte, tröstende Worte für ihren Mann zu finden. Sie war eine fromme Frau und nahm dieses schwere Schicksal als den unbegreiflichen Willen Gottes auf sich. Sie wurde ruhig und gefasst. Hanne musste ihre Mutter bewundern und beneidete sie fast um ihren tiefen Glauben.

Hanne fuhr mit dem Vater zu der Unglücksstelle am Teutoburger Wald. Sie sprachen später mit dem Funker, der als Einziger das Unglück überlebt hatte. Er erzählte von dem dichten Nebel, und dass sie angenommen hatten, den Berg schon überflogen zu haben. Er sprach von dem furchtbaren Knall und der darauf folgenden unheimlichen Totenstille. Waldarbeiter hatten das Flugzeug und den Krach gehört und die Unglücksstelle sofort aufgesucht. Sie hatten den Funker bewusstlos gefunden und ihn ins Krankenhaus gebracht. Edwin und seine Kameraden waren sofort tot.

Auf der Unglücksstelle bot sich ihnen ein Bild der Zerstörung. Zwischen abgeschnittenen Bäumen lagen Bruchteile des Flugzeugs. Erschüttert, mit Tränen in den Augen, ging Hanne über den Unglücksplatz. Ganz zufällig - sie stieg über einen abgeschnittenen Baumstamm - fiel ihr Blick auf etwas Blankes auf der Erde. Sie hob es auf und hielt in der Hand ein Stück vom Uhrarmband ihres Bruders. Sie erkannte es ganz sicher. Hanne nahm es mit nach Hause, erzählte aber niemand davon. Man hatte ihnen gesagt, ihr Bruder wäre am Körper unversehrt geblieben. Er habe ausgesehen, als ob er schliefe. Nun zweifelte sie an dieser Aussage wegen des zerrissenen Armbandes. Diesen Zweifel wollte sie ihren Eltern ersparen.

Von den drei Söhnen des Hofes hingen Fotografien über dem Klavier im Wohnzimmer über Edwins Bild wurde das Gedicht gehängt, das sein Schwager - er war Pastor - ihm gewidmet hatte:

 

 

Du junger Flieger - der Lüfte Sieger,

flieg heim geschwind, du Sonnenkind.

Warum mußtest du finden

auf heimatlichen Gründen

ein allzu jähes Ende?

Frag ich nach dem Warum?

Dein Zeit ist schon herum.

Die Stunde setzt alleine

der Ew’ge und der Eine -

Er kennt und setzt auch meine!

 

Edwin wurde in die Heimat überführt. An der Beisetzung nahmen eine Abordnung Kameraden und ein Offizier teil. Am Abend zuvor bat Hannes Vater, ihm beim öffnen des Sarges zu helfen, er wollte seinen Sohn noch einmal sehen. Hanne hatte Bedenken, ob es richtig war, sie sagte: "Laß uns Edwin in Erinnerung behalten wie er lebend ausgesehen hat". Sie dachte an das zerrissene Armband. Als ihr Vater jedoch bei seinem Vorhaben blieb, fragte sie den Offizier, ob es möglich sei, dem Vater den Wunsch zu erfüllen. Der Offizier sagte ein entschiedenes "Nein!". Auf keinen Fall durfte der Sarg geöffnet werden. Hanne war sicher, dass dem Vater ein furchtbarer Anblick erspart worden war.

Einige Wochen nach diesen schweren Tagen kam Hannes Bruder Heinrich aus Russland in Urlaub. Zwei Tage später erschien auch unerwartet Peter. Die Geschwister waren zusammen. Sie spürten die Lücke, die der Tod Edwins gerissen hatte. Ohne Worte zu machen, wussten sie, dass sie sich unendlich lieb hatten. Die wenigen Urlaubstage vergingen viel zu schnell. Der Tag des Wiederfortmüssens rückte immer näher. Heinrich musste als Erster wieder an die Front. Als er sich verabschiedete, vermissten sie Peter, er war nicht zu sehen. Hanne rief und suchte ihn. Sie fand ihn im Garten. Tief ernst saß er auf einer Bank. Auf ihre Frage, warum er sich zurückgezogen habe, antwortete er: "Die Abschiedsszenen sind nichts für mich!" Da fiel Hanne Peters Traum ein, sie erschrak. Als auch Peter ein paar Tage später wieder an die Front musste, befiel sie solch eine große Angst, dass sie nur ihre Hände falten und beten konnte: "Beschütze sie!"

Peter hatte ihr erzählt, dass er auf der Fahrt in die Heimat - als er in Hannover einige Stunden auf den Zug warten musste - ein liebes Mädchen kennen gelernt hatte. Sie wartete ebenfalls auf einen Zug, um weiterfahren zu können. Sie hatte ihren Bruder im Lazarett besucht, der einen Arm an der Front verloren hatte. Peter hatte sich lange mit ihr unterhalten und sie in dieser kurzen Zeit lieb gewonnen. Er hoffte, von ihr zu hören und sie wieder zu sehen. Peter erzählte Hanne stets seine Erlebnisse. Es wurde dabei oft spät in der Nacht, ehe sie zu Bett gingen. Das Verhältnis unter den Geschwistern konnte nicht besser sein. Sie sprachen über alles miteinander. Der eine war jederzeit für den anderen da.

Eines Abends klagte Hanne über arge Kopfschmerzen. Sie hatte den ganzen Tag bei den Bauern in Tendorf das Vieh gezählt. Sie ging mit einer Liste von Hof zu Hof, in die sie die Zahl der Kühe, Schweine und Hunde eintragen musste. Sie hatte sich dabei nicht wohl gefühlt, doch die Zählung nicht abgebrochen.

Als sich zu den Kopfschmerzen Fieber einstellte, wurde der Arzt gerufen. Er stellte sofort Scharlach fest. Sie musste ins Krankenhaus gebracht werden, dazu auf die Isolierstation. "Scharlach, wie er im Buche steht" bemerkte die Stationsschwester. Ihre Mitschwestern, die noch kein Scharlach gesehen hatten, sollten Hanne "bewundern"! Ihr Körper war feuerrot. Hanne konnte nicht einmal die Ärmelnaht ihres Nachthemdes auf der Haut ertragen. Mit ihrer Nagelschere schnitt sie einfach den Ärmel heraus. Das Nachthemd - es war aus feinem Battist - hatte sie selbst genäht und trug dieses besonders gern. Hanne lag nur wenige Tage allein auf dem Zimmer, dann brachte man eine Wöchnerin zu ihr, die ebenfalls Scharlach bekommen hatte. Ihr kleines Baby war dabei ganz munter. Hanne erfuhr, dass Babys bis zu einem Jahr immun sind. Die kranke, junge Mutter tat ihr Leid. Als noch eine Brustentzündung dazu kam, hatte sie starke Schmerzen. Sie stöhnte laut. Was nutzten da alle tröstende Worte.

Eines Morgens kam die Stationsschwester ins Zimmer, setzte sich zu Hanne aufs Bett und nahm ihre Hand. "Warum hat sie heute so viel Zeit für dich" dachte Hanne und ahnte nichts Gutes. Die Schwester brachte das Gespräch auf Hannes Brüder und fragte, ob sie kürzlich Post von Peter bekommen hätte. "Warum fragt sie gerade nach Peter"? Eine große Angst befiel sie, ihr Herz klopfte wie rasend. Die Schwester konnte die Nachricht nicht mehr zurückhalten: Peter war in Russland - an der Spitze seiner Abteilung - gefallen. Ein Kopfschuss hatte ihn getötet. Hanne vergrub ihr Gesicht in das Kissen und schluchzte. Nun hatte sie auch ihren zweiten Bruder verloren. Es war so gekommen, wie Peter es geträumt hatte. Als am kommenden Sonntag die Trauerfeier für ihn in der Kirche gehalten wurde, konnte Hanne nicht an ihr teilnehmen. Sie hörte von ihrem Krankenzimmer aus die Glocken läuten. Ihre Traurigkeit war so groß, dass sie keinen Wert auf ihre Gesundung legte. Nach der Trauerfeier durfte ihre Mutter - trotz der Isolation - zu ihr ins Zimmer. Der Arzt hatte dies angeordnet. Als Hanne ihre tapfere Mutter sah, die nun zwei ihrer Söhne verloren hatte und dennoch Worte des Trostes für sie fand, wollte auch Hanne tapfer sein und wieder gesund werden. Sie schrieb ihrem Bruder Heinrich einen langen, lieben Brief und wurde dabei immer ruhiger.

Bis zum Weihnachtsfest waren es nur noch wenige Tage. Hanne wollte auch etwas zur Weihnachtsfeier beitragen und schrieb ein Gedicht, das Schwester Elisabeth vortrug:

 

Weihnacht im Felde.

Weihnacht - und weit von Haus fort,

sei es im Süden, sei es im Nord,

sei es im Westen, in Russland auf Wacht,

dort wo ein Deutscher steht, ist Weihnacht.

Mag in dem Kampf auch kein Unterschied sein,

schießt auch der Feind in die Stellung hinein,

von Mund zu Munde geht es ganz sacht:

Kamerad, heut’ ist Weihnacht!

Und wenn dem Kampf geboten ein "Halt",

wird ein Bäumchen geholt aus dem nahen Wald.

Ein kleines Lichtlein wird angebracht,

und das Lied erklingt von der Weihnacht.

Dann gehn die Gedanken weit hinaus

und finden ihr Ziel bei den Lieben zu Haus.

Bei Vater und Mutter, bei Frau und Kind,

die unterm Weihnachtsbaum beisammen sind.

Front und Heimat - getrennt durch die Schlacht

und doch so nah in der Weihnacht!

 

Als Hanne wieder einige Zeit zu Hause war, kam ihr Bruder Heinrich in Urlaub. Er lud sie zu einem kurzen Winterurlaub nach Kitzbühl ein. Nach ihrer schweren Krankheit würde eine solche Luftveränderung ihr gut tun. Doch ihr Vater erlaubte es nicht. Sie konnte nur annehmen, dass er fürchtete, sie könnte dort einen Mann kennen lernen, der ihm nicht in seinen Plan passte. Er hatte einen bestimmten Bauern im Sinn, den er sich als Schwiegersohn wünschte. Alles Zureden ihres Bruders half nichts.

Man zählte nun schon den vierten Kriegswinter. Es gab nur wenige Familien, die nicht einen Angehörigen durch den Krieg verloren hatten.

Das Mädchen Elle, von dem Hannes Bruder Peter in seinem letzten Urlaub erzählt hatte, schickte ihr einen Brief, den ihr Peter - es war sein letztes Lebenszeichen geschrieben hatte. In diesem Brief hatte er ihr von seinem Zuhause, von seinen Eltern und Geschwistern erzählt. Elle wusste, dass Peters Angehörigen sich über diesen Brief freuen würden. Hanne antwortete ihr und bedankte sich - auch im Namen ihrer Eltern - für ihr liebes Gedenken. Es wurden noch viele Briefe zwischen Elle und Hanne gewechselt. Es entstand eine echte Freundschaft. Beide hatten den Wunsch, sich auch persönlich kennen zu lernen. Hanne fuhr nach Hannover. Vom ersten Augenblick an verstanden sie sich. Wenn sie sich besuchten, waren für Stunden die Sorgen vergessen. Sie waren fröhlich und auch mal ausgelassen wie zwei "Backfische", die über alles und jedes lachen können. Leider konnte dies nur selten sein, da der Weg zu weit und ihre Pflichten sie nicht öfter fahren ließen.

Das Frühjahr brachte wieder viel Arbeit. Als einzige Arbeitskräfte waren Frauen und Gefangene auf dem Hofe. Hannes Mutter war gut zu ihnen. Sie schätzten die Bäuerin sehr und arbeiteten gern auf dem Hofe.

Hanne war die rechte Hand ihres Vaters. Sie arbeitete wie ein Knecht. Es gab kaum nichts, was sie nicht verrichten konnte.

Die Luftangriffe nahmen zu. Die Städte wurden immer mehr zerstört. Selbst am Tage konnte man von Tieffliegern angegriffen werden. Als Hanne mit einigen Leuten Kartoffeln pflanzte, flog ein feindliches Flugzeug schießend ganz tief über das Feld. Hanne saß auf dem Traktor und eggte. Sie sprang schnell ab und warf sich auf den Boden, wie die anderen es auch machten. Wollte der Flieger sie wirklich treffen oder sie nur Bange machen? Nachdem er ein paar Mal über das Feld hinweggeflogen war, drehte er ab. Sie waren alle unversehrt und gingen wieder an die Arbeit. Es war eine angstvolle Zeit! Auch die Zivilbevölkerung hatte hohe Verluste zu beklagen. Die Städte waren Bilder des Grauens.

Die Lage an den Fronten wurde immer kritischer. In den Nachrichten wurde von Rückzügen und eingeschlossenen Soldaten gesprochen. Hanne hatte schon lange nichts von Heinrich gehört. Er führte eine Abteilung in Russland. Eines Tages kam ein Telegramm: "Bin schwer verwundet, keine Lebensgefahr". Das Telegramm war in der Tschechoslowakei abgestempelt und man konnte den Namen der Stadt Brünn lesen. Sie holte schnell ihren Atlas, um zu sehen, wo die Stadt. lag. Ob sie wohl dorthin fahren konnte? Ja, es war möglich, und nichts hätte sie von dieser Fahrt abhalten können. Sie wollte so schnell wie es ging zu ihm. Als sie nach langer Fahrt in Brünn ankam, telefonierte sie mit allen Lazaretten, die es dort gab. Die Tränen standen ihr in den Augen, als sie immer wieder hören musste: "Hier gibt es keinen Offizier mit dem Namen".

Es gab noch ein Lazarett, mit dem sie nicht gesprochen hatte, es lag außerhalb von Brünn. Sie glaubte fast nicht mehr daran, ihren Bruder zu finden. Als sie dann die Antwort erhielt: "Ja, ihr Bruder befindet sich auf der Station VI Zimmer 134", da wäre sie am liebsten in die Luft gesprungen, hätte zu gern alle Menschen umarmt, ihnen zugerufen: "Ich habe ihn gefunden !" Die Straßenbahn fuhr ihr viel zu langsam zum Lazarett. Als sie an der Pforte stand, war gerade Mittagszeit. Man wollte sie nicht hereinlassen. Sie erzählte dem Pförtner, dass sie über tausend Kilometer gefahren sei und nicht mehr warten könnte, ihren Bruder zu sehen. Der Mann hatte ein Einsehen, rief einen Soldaten und bat ihn, Hanne zu ihrem Bruder zu führen. Ihr Herz klopfte rasend, als sie vor der Tür Nr. 134 standen. Wie würde es ihm gehen? Was würde er sagen? Dann ging die Tür auf. Gleich im ersten Bett lag ihr Bruder. Hanne sah in ein bleiches Gesicht. Die vergangenen Wochen waren ihm anzusehen. Ein Granatsplitter hatte eine lange, tiefe Wunde am Oberschenkel gerissen. Doch er lebte! Als Heinrich Hanne erblickte, drückten seine Augen Überraschung und große Freude aus. "Bist du schon da!" rief er. Dann drückten sich die Geschwister ganz fest, und Tränen der Freude liefen über Hannes Gesicht. Sie blieb nur ein paar Tage bei Heinrich. Ihre Eltern warteten auf Nachricht. Sie hatte versprochen, schnell wieder zu kommen. Die Züge waren überfüllt. Hanne musste die vielen Stunden, auf ihrem Koffer sitzend, im Gang des Zuges verbringen. Aber was machte das schon !

Es geschah öfter, dass Soldaten auf dem Hofe einquartiert wurden. Hanne dachte dann immer, den Soldaten Gutes tun zu müssen. Das glaubte sie durch eine leckere Mahlzeit zu können. So backte sie an einem Abend über dreißig Eierpfannkuchen. Die Soldaten aßen mit Heißhunger. "Wie bei Muttern" scherzten sie dann. Mancher Brief erreichte sie mit dankbaren Worten, wenn die Soldaten längst wieder weit fort waren.

Aus den zerstörten Städten hatten einige Familien auf dem Hofe eine Wohnung gefunden. Alle Zimmer in dem großen Wohnhaus waren belegt. Eine Tante aus Berlin war für immer zu Hannes Eltern gezogen. Sie hatte Tante Alma gern. Sie erzählte ihr von der "guten alten Zeit" in Berlin. Hanne bedauerte sehr, Tante Alma nicht früher gekannt zu haben, als sie selbst in Berlin war. Wie gern wäre sie zu ihr gegangen. Weil Tante Alma solch ein lieber Mensch war, mochte ihr auch niemand sagen, dass beim Essen ihre Zahnprothese recht unangenehme Geräusche machte. Niemand wollte ihr wehtun. Sie ahnte nicht, dass sie alle am Tisch nervös machte. Man wusste, dass sie sehr empfindlich war.

Nach einem kurzen Genesungsurlaub musste Heinrich wieder an die Front. Jeden Abend schrieb Hanne ihm einen Brief. Nun konnte sie nur noch einem Bruder schreiben. Die Nachrichten von der Front kamen immer seltener. Die deutschen Soldaten mussten sich immer mehr zurückziehen. Menschen kamen aus dem Osten mit den wenigen Habseligkeiten, die sie retten konnten. Sie mussten Hof und Heimat verlassen. Im Dorf war ein großes Lager eingerichtet worden, wo diese Flüchtlinge betreut wurden. Hanne half, wo sie konnte. Mal war sie in der großen Küche tätig, oder sie half dem Arzt bei der Untersuchung der Kranken. Mit dem Traktor und einem Anhänger brachte sie Familien in ihre neue Wohnung, die ihnen von der Gemeinde zugewiesen wurden. Nun hieß es: zusammenrücken! Es waren Viele, die Unterkunft brauchten. Der Kalender zeigte: Ostern!

Der ganze Hof war voll Soldaten, die sich zurückgezogen hatten. Ferner kriegsgefangene Russen, Polen und Franzosen. Hanne kochte für alle in einem großen Kessel eine Bohnensuppe. Sie hatte ihre Rot-Kreuz-Uniform angezogen. Die Front war ganz nah. Da hieß es plötzlich: der Feind ist in Tendorf, der Ort soll verteidigt werden. Zwei Maschinengewehre waren auf dem Hof aufgestellt. Die Frauen, darunter eine Polin, die ein Kind erwartete, hatten im Keller ein Lager gemacht, um vor Schüssen sicher zu sein, In der Ferne hörte man Schüsse. Dann wurde alles still. Zwei amerikanische Jeeps kamen auf den Hof gefahren. Von den Soldaten war niemand mehr zu sehen. Sie waren geflüchtet, um nicht in Gefangenschaft zu kommen, sie konnten das Ende nicht mehr aufhalten.

Hanne dachte immerzu: "wo mag wohl mein Bruder sein? Ob er das Ende dieses furchtbaren Krieges überlebt hat?". Ihr Vater hatte den Hof verlassen, um nicht noch zum "Volkssturm" eingezogen zu werden. Hannes Mutter und ihre Schwester mit ihrem kleinen Töchterchen waren zu Verwandten gegangen. Tante Alma und Hanne waren allein mit den fremden Menschen auf dem Hof. In ihrer Uniform fühlte sich Hanne stark. Sie wurde von allen respektiert. Abends legte sie sich angekleidet ins Bett. Jederzeit bereit, aufzustehen. Schließlich waren ja noch einige russische und polnische Kriegsgefangene auf dem Hof. Auch solche, die sie vorher nie gesehen hatte.

Sie schlief unruhig. Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Es musste jemand in ihrem Zimmer sein! Sie schaltete die kleine Lampe an ihrem Bett ein und rief: "Wer ist da?" "Mach schnell das Licht aus" rief die Stimme. An dieser Stimme erkannte sie ihren Bruder. Er war durch das Toilettenfenster, von dem er wusste, dass es schwer zu schließen war, ins Haus gestiegen und stand nun vor ihrem Bett, in verdreckter Uniform, schmutzig im Gesicht, die Pistole in der Hand. Er hatte einen langen Weg hinter sich, die Front war aufgelöst, alle Kameraden waren zerstreut. Jeder versuchte, sein Leben zu retten. Der Krieg war beendet und verloren. Nach tagelangem Marsch hatte Heinrich den Weg in die Heimat zurückgelegt. Nun musste er sich verbergen. Die fremden Menschen auf dem Hof hätten ihn verraten können. Die Soldaten und Offiziere sollten in Lagern untergebracht werden.

Nachdem Hanne ihm heimlich zu essen geholt und Heinrich sich gewaschen hatte, versteckte er sich - der Sohn des Hauses - auf dem Dachboden. Er legte sich ins Stroh und schlief bald völlig erschöpft ein.

Wenn die anderen Menschen auf dem Hof ihre Mahlzeiten einnahmen , schlich Hanne sich auf den Boden, um auch ihrem Bruder das Essen zu bringen. Erschreckt wachte er dann auf, immer in der Angst, es könnte jemand anders sein.

Nach drei Tagen - es war ein Sonntag - klopfte es an der Haustür. Hanne ging hin. In zerlumpter Kleidung standen drei Männer vor ihr. Einer von ihnen überreichte Hanne einen Zettel, sie las: "Wir sind drei Kameraden Ihres Bruders, wir können nicht nach Hause, können wir bei Ihnen bleiben? Ist ihr Bruder schon angekommen?"

Hanne erzählte ihnen von Heinrich, dass er sich auf dem Dachboden - wegen der fremden Menschen - versteckt hielte.

Sie stellten fest, dass sie nicht auch auf den Dachboden konnten. Es war unmöglich, sie alle dort versteckt zu halten ohne aufzufallen. Hanne riet ihnen, sich vorerst im Wald zu verstecken. Sie wollte ihnen Decken, Zeltplane und vor allem zu essen bringen. Ferner wollte sie mit ihrem Bruder alles Weitere besprechen. So machten sie es auch. Zum Glück war das Wetter trocken und warm. Aber wie sollte es weitergehen? Hannes Bruder konnte nicht länger auf dem Heuboden bleiben. Einer der Russen hatte wohl etwas gemerkt. Er fragte: "Wohin Fräulein Hanne immer gehen?" Seine Worte klangen sehr verdächtig. Heinrichs Kameraden waren es leid, sich weiterhin versteckt zu halten. Sie hatten beschlossen, sich freiwillig in die amerikanische Gefangenschaft zu begeben. In der Hoffnung, wenn sie sich freiwillig melden würden, baldigst entlassen zu werden. Heinrich hatte gleich gesagt: "Dann gehe ich mit !". Er wollte seine Kameraden nicht im Stich lassen.

Nachdem sie sich gründlich gewaschen und sauberes Zeug angezogen hatten, das Heinrich ihnen gegeben, baten sie Hanne, zu der Kommandantur zu fahren und sie dort zu melden. Es wurde Hanne unsagbar schwer!

Es dauerte nicht lange und drei Offiziere kamen mit einem Jeep und holten Heinrich und seine Kameraden ab. Wieder ein Abschied! Wie lange würde es dauern, sich wieder zu sehen? Wenn es diesmal auch nicht in den Krieg ging, so hatte man doch gehört, dass in vielen Lagern die Soldaten hungern mussten.

Hanne hörte, dass im Nachbarort eine "Wahrsagerin" die Zukunft voraussagte, und sie den Angehörigen, wenn sie ein Bild des Betreffenden mitbrachten, den Ort seiner Gefangenschaft und die Dauer bis zu seiner Rückkehr sagen konnte.

Hanne nahm sich ein Herz und fuhr eines Sonntags zu dieser Frau. Sie sagte Hanne, dass ihr Bruder nicht weit entfernt und in 32 Tagen entlassen würde. Durfte Hanne das glauben? Die 32 Tage waren längst verstrichen. Sie hatten noch nichts von Heinrich gehört. Es meldeten sich in dieser Zeit immer wieder Kameraden ihres Bruders, die sich der Gefangennahme hatten entziehen können oder bereits entlassen waren und nicht in ihre Heimat fahren konnten, da diese im russischen Sektor lag. Hanne gelang es, ihnen zunächst - als landwirtschaftliche Arbeiter - Unterkunft und Verpflegung zu besorgen.

Noch immer hatte sie nichts von ihrem Bruder gehört. Nun glaubte sie auch nicht mehr den Worten der Wahrsagerin, dass sie bald den Mann fürs Leben kennen lernen würde. Es ist nicht schwer zu erraten, was ein 24-jähriges Mädchen gern hören möchte!

Eines Tages schellte es wieder an der Haustür. Hanne traute ihren Augen nicht: Herr König aus Berlin stand vor ihr. Aber wie sah er aus! Seine zerlumpte Kleidung hing nur so an seinem Körper. Sein Gesicht bleich und die Augen in tiefen Höhlen. Hanne war erschrocken. Als sie von seinem Schicksal erfuhr, hatte sie große Angst. Joachim war mit Hilfe eines Geistlichen aus der Gefangenschaft entflohen. Es war möglich, dass er als hoher Offizier durch das Radio gesucht bzw. aufgefordert wurde, sich zu stellen. Vor allem durfte Hannes Vater von dieser Möglichkeit nichts erfahren, er hätte auf keinen Fall seine Einwilligung zum Verbleiben auf dem Hofe gegeben. Nirgends war Joachim so sicher wie in Tendorf, niemand kannte ihn.

Die Nachrichten im Radio hörten sie mit Spannung und Sorge, sie durften sich nichts anmerken lassen. Als einige Tage verstrichen waren, atmeten sie auf, nun würde sein Name nicht mehr genannt werden. Da man auf ihn geschossen hatte, war man sicher der Meinung, er wäre nicht weit gekommen. Man hatte ihn aufgegeben.

Hanne pflegte ihn. Die Ruhe und die kräftige Kost taten ihm gut. Joachim erholte sich immer mehr. Seine Kräfte nahmen zu, und bald war er so weit, dass er in der Ernte mithelfen konnte. Hanne saß auf dem Traktor, Joachim auf der Mähmaschine. So arbeiteten sie zusammen und waren ein wenig glücklich dabei. Sie sprachen von den schönen Stunden in Berlin. Hannes Vater merkte die gegenseitige Zuneigung und äußerte bald seinen Unmut darüber, dass Herr König noch immer auf dem Hofe wäre, obwohl er sich gut erholt und fortgehen könnte. In Wahrheit hatte er Angst, Hanne könnte sich in den gut aussehenden, nun ohne Beruf dastehenden Mann verlieben. Er dachte noch immer an einen Bauern mit einem großen Hof, wenn er Hannes Zukunft im Auge hatte. Joachim merkte, dass dem Bauern sein weiteres Verbleiben unerwünscht war und kündigte sein Fortgehen an. Da traf ein Brief seiner Mutter ein. Er brachte die traurige Nachricht, dass sein Vater gestorben war. Nun fuhr Joachim direkt zu seiner Mutter nach Leipzig, wohin sie von Berlin gezogen war. Er hatte geglaubt, dass ihn dort niemand kennen würde. Doch er irrte sich. Man hatte ihn verraten. Als er mit seiner Mutter aus der Leichenhalle kam, wo sein Vater aufgebahrt war, nahmen ihn drei Russen gefangen. Sie holten den Sohn von der Seite seiner Mutter weg.

Hanne erfuhr später von Frau König, dass ihr Sohn in der erneuten Gefangenschaft verhungert war. Ein Arzt hatte ihr geschrieben, dass alle Mühe, ihren Sohn am Leben zu erhalten, vergeblich gewesen war. "So war doch alles vergeblich!" dachte Hanne erschüttert.

Bald erhielt Hanne einen Kartengruß von ihrem Bruder. Zwar nicht direkt von ihm, sondern von einem entlassenen Kameraden. Er teilte mit, dass auch Heinrich bald nach Hause kommen würde. Sie wagte kaum, sich zu freuen. Nach einigen Tagen wurde es Wirklichkeit: Heinrich kehrte zurück und was erst unbegreiflich erschien, er brauchte nie wieder fort! Nun wusste sie, würde ihr Leben sich ändern. Sie hatte all die Jahre dem Vater den Sohn ersetzt. Nun war sie frei von dieser Verpflichtung und durfte an sich denken. Sie hatte nicht nur gearbeitet, sie hatte sich wahrlich gequält. Als alle den Hof verließen, hatte sie ausgehalten. Immer dabei an ihren Bruder gedacht, was sie stark gemacht hatte. Nun war er zurückgekehrt - als Einziger von den drei Söhnen des Hofes. Heinrich hatte noch einen Kameraden aus der Gefangenschaft mitgebracht, der - wie viele andere - nicht in seine Heimat fahren konnte, da sie im russischen Sektor lag. Nun waren zwei kräftige Männer auf dem Hof. Hanne durfte nun die Arbeit tun, die ihr als Tochter zustand, sie durfte der Mutter im Haushalt helfen.

Es war zu verstehen, dass sich Hanne nun nach einem Lebensgefährten sehnte, nach einer eigenen Familie, nach Selbstständigkeit. Sie war inzwischen 24 Jahre alt geworden.

Auch andere Bauernsöhne waren aus der Gefangenschaft nach Hause gekehrt. Da war es selbstverständlich, dass sie sich nach einer Bauerntochter umsahen, sie zu heiraten. Eines Abends meldete ein Jungbauer sein Kommen an. Er bat Hanne, seine Frau zu werden. Es tat ihr Leid und wurde auch schwer, ihm beizubringen, dass sie ihn wohl schätze, aber nicht seine Frau werden könnte. Sie liebte ihn nicht, mochte sein Hof auch noch so schön und groß sein! Er blieb nicht der einzige, dem Hanne mit "nein" antworten musste. Sie liebte sie nicht, und das war doch wohl eine Voraussetzung!

In Hannes Zimmer stand ein kleiner, runder, alter Ofen, auf dem ein blanker Wasserkessel für warmes Wasser sorgte. Wenn Hanne im Bett lag, und ihr Blick auf diesen Kessel fiel, dachte sie oft: möchte mein eigener Haushalt doch so klein sein, dass dieser Kessel groß genug ist, für meine Familie Kaffee zu kochen. Sie musste dann über sich selbst lachen. Wie sollte ihr Haushalt so klein werden? Sie würde doch sicher einen Bauern heiraten und eine große Küche führen müssen - wie ihre Mutter. Sie kannte ja die großen Kessel und Töpfe, die auf dem Herd standen und öfter nicht einmal ausreichten. Zudem hatte Hannes Vater ihr klar und bestimmend zu verstehen gegeben, dass er nur einer Heirat mit einem Bauern zustimmen würde, sie andernfalls auch nicht mit einer Aussteuer zu rechnen habe. Er war ein Bauer durch und durch. Fühlte sich als König auf seinem Hof. Wer Grund und Boden und Vieh besaß, zählte bei ihm. Ein Beamter war für ihn ein "Hungerleider", zudem ein fauler Mensch, der lange schläft und viel zu gut bezahlt würde.

Hanne dachte oft an die Worte des Mannes, der aus Bielefeld gekommen war und die Bauernhöfe aufgesucht hatte. Er behauptete, feststellen zu können, ob eine Kuh trächtig war oder nicht. Das war für den Bauer von Wichtigkeit. Wenn eine Kuh nicht trächtig wurde, war sie zum Schlachten bestimmt. Dieser Mann wollte ebenfalls in die Zukunft schauen und auch Krankheiten im Keim erkennen können. Er besaß dazu eine Kugel, die an einer Schnur hing. Wo diese Kugel am Körper des Menschen anfing zu pendeln, war das Organ krank.

Hanne hatte ihre Mutter gebeten, falls der Mann zu ihnen kommen sollte, er auch sie untersuchen möchte. Sie war gerade auf dem Felde am Dünger streuen, als sie ihn kommen sah. Wenn Hanne ihn auch nicht ernst nehmen wollte, so interessierte es sie doch, was er zu sagen hatte.

Dass er sie gerade bei der schmutzigsten Arbeit antraf, gefiel Hanne nicht. Das war nun nicht zu ändern. Zunächst wollte er also ihre Gesundheit prüfen. Die Kugel stellte fest: alles in Ordnung. Hanne hatte auch nichts anderes erwartet. Doch nun fragte sie ihn nach ihrer Zukunft. Er schaute sie an, bewegte die Kugel in seiner Hand und sprach folgende Worte: "Sie werden in der Stadt wohnen. Ihr Mann wird ein hoher Beamter sein. Sie werden zwei Kinder bekommen, eine Tochter und einen Sohn". Das hörte sich ja wunderbar an, aber wie sollte dieses Wirklichkeit werden? Wie konnte dieser Mann nur so etwas sagen? Dennoch war sie ihm für dieses "Luftschloss" dankbar. Sie lächelte ihm zu, als er sich von ihr verabschiedete.

Es war Anfang des Jahres 1946. Hanne feierte ihren Geburtstag. Als ihr Bruder zu diesem Tage gratulierte, schloss er mit den Worten: "Ich wünsche dir, dass du in deinem neuen Lebensjahr deinen zukünftigen Mann kennen lernst". Hanne ahnte nicht, dass dieser Zukünftige an diesem Tage aus der russischen Gefangenschaft zurückgekehrt war und sich in ihrem Nachbarort aufhielt. Ein Vetter ihrer Mutter schrieb ihr, dass er einen Gutsbesitzer kenne, der eine Frau suche, er habe an Hanne gedacht. Rührend, wie man sich um sie mühte, dachte Hanne ärgerlich. Sie wollte kein Spielverderber sein und fuhr mit dem Onkel zu dem Gut, um den Heiratskandidaten kennen zu lernen. Natürlich hatte der Onkel einen besonderen Grund seines Besuches angegeben. Hanne war entsetzt. Hatte sie es schon nötig, einen umso viele Jahre älteren Mann zu heiraten? Entschieden machte sie ihrem Onkel klar, dass eine Ehe mit diesem Herrn nicht in Frage käme und wäre er Besitzer von mehreren Gütern! Ob ihr Onkel ein schlechtes Gewissen hatte, er bereitete Hanne noch ein paar sehr schöne Tage, ohne jemals wieder von einer Heirat zu sprechen. Hannes Vater versicherte ihr immer wieder, dass für ihn als Schwiegersohn nur ein Bauer in Frage käme. Er stellte ihr sogar in Aussicht, einen Mann für sie zu besorgen, er habe schon mit Berufskollegen gesprochen. Hanne war außer sich vor Zorn!

Eine Abwechselung brachte ihr ein Besuch bei ihrer Freundin in Hannover. Es machte ihr großes Vergnügen, mit ihr im Schlitten zu fahren und alle Besorgungen zu erledigen. Hanne imponierte, wie Elle das Weglaufen des Pferdes verhinderte, wenn sie in einem Geschäft zu tun hatten. Elle hing dem Pferd ein Gewichtstück an einem Gurt um den Hals, der auf der Erde endete. Das Pferd wurde beim Stehenbleiben nicht behindert. Würde es aber weglaufen, hätte es dieses Gewicht mitschleppen müssen, und das wäre nicht möglich gewesen. Die Beiden plauderten bis spät in die Nacht und lachten dabei. Als Freundinnen hatten sie sich viel zu erzählen, bauten Zukunftspläne und versicherten einander, sich recht bald wieder zu sehen.

Die Jungbauern wollten sich auf einer Diele treffen, tanzen und fröhlich sein. Nach den Kriegsjahren sehnten sie sich nach fröhlichen Stunden. Man traf sich jeden Monat einmal auf einer Bauerndiele. Um besser tanzen zu können, wurde der Fußboden mit Waschpulver bestreut, das den Boden glatter machte. Hanne und ihr Bruder nahmen an diesen Zusammenkünften teil. Sie schaute sich um und dachte: "Wer von ihnen könnte mir gefallen?" Ihr Blick fiel auf einen Herrn, den sie noch nie gesehen hatte. "Der gefällt mir, wer mag er wohl sein?". Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als er plötzlich vor ihr stand und sie zum Tanzen aufforderte. Der Herr konnte nicht nur gut tanzen, er unterhielt sie auch gut. Sie freute sich, wenn er immer wieder sie zum Tanz bat. Dass er kein Bauer war, sah sie auf den ersten Blick. Vielleicht studiert er Landwirtschaft? Als er sich vorstellte, wusste Hanne, dass er der Vetter eines ihr bekannten Bauernsohnes und mit ihm gekommen war. An diesem Abend konnte sie lange nicht einschlafen. Sie musste immer an diesen Herrn denken bis sie erschöpft vom vielen Tanzen endlich einschlief. Sie hatte nur kurze Zeit geschlafen, als sie ein Klopfen an ihrer Tür hörte. Eine leise, ängstliche Frauenstimme rief ihren Namen. Hanne stand auf, öffnete einen Spalt die Tür. "Bitte, rufen Sie einen Arzt, meine Tochter hat starke Schmerzen, sicherlich ist es der Blinddarm !". Hanne lief zum Telefon. Es dauerte lange bis sich der Arzt meldete, schließlich war es ja auch spät in der Nacht. Als Hanne nach der Kranken sah - sie hatten eine Wohnung auf dem Hofe - hörte sie ein lautes Stöhnen. Konnte es denn sein, dass ein Blinddarm solche Schmerzen verursachte? War es . . . ? Dann merkte Hanne: das Mädchen hatte eine Fehlgeburt. Die Mutter war ganz unglücklich, sie wusste nicht, was sie machen sollte. Hanne holte schnell ihren Unfall-Hilfskasten, band einige Tücher zusammen, legte das Geborene hinein und band alles an der Mutter fest. Dann lief sie wieder zum Telefon. Sie benachrichtigte den Arzt und zugleich das Krankenhaus. Sie rief den Krankenwagen und war erleichtert, als das Mädchen von starken Händen auf der Trage heruntergebracht und ins Krankenhaus gefahren wurde. Mehr hatte Hanne nicht für sie tun können. Sie konnte nicht wieder einschlafen. Gedanken des Mitleids und des Zorns auf den Mann, der dem Mädchen das angetan hatte, jagten durch ihren Kopf.

Hannes Schwester wohnte seit ein paar Jahren im Ruhrgebiet. Ihr Mann hatte dort eine Pfarrstelle übernommen. Sie hatten bereits drei Töchter. Nun erwartete sie wieder ein Kind. Ob nun der ersehnte Junge kommen würde? Hanne hatte ihrer Schwester versprochen, sie im Wochenbett zu pflegen. Sie wollte gern zu Hause ihr Kind zur Welt bringen. Eines Tages war es so weit. Ein Anruf: "bitte kommen", und Hanne fuhr mit dem nächsten Zug nach Bochum. Sie erlebte die Geburt ihres Neffen. Nach einigen starken Wehen hielt die Hebamme einen kräftigen Jungen in den Händen. Alle Schmerzen waren vergessen: ihre Schwester strahlte geradezu vor Glück und Dankbarkeit. Ihr Mann, der während der Geburt ihren Kopf liebevoll gehalten hatte, küsste seine Frau, die ihm nun einen Sohn geschenkt hatte. Hanne blieb einige Tage, pflegte ihre Schwester und betreute das kleine Baby mit aller Liebe und Anhänglichkeit. Hanne fühlte sich wohl in der harmonischen, fröhlichen Familie. Wieder war ein Monat vorüber und man traf sich erneut auf einer Bauerndiele. Hanne konnte es kaum abwarten. Ob der Herr, mit dem sie das letzte Mal so oft getanzt hatte, wieder da sein würde? Sie sah sich um und schaute immer wieder nach ihm aus, doch er war nicht zu sehen. Aber auch sein Vetter war nicht gekommen. Das musste doch einen Grund haben. Hanne war enttäuscht, sie hatte keine Lust, länger zu bleiben und fuhr traurig nach Hause. Später erfuhr sie, dass an dem Wagen, mit dem er hatte kommen wollen, die Achse gebrochen war, und sie leider hatten nach Hause fahren, vielmehr sich hatten abschleppen lassen müssen.

Hanne hatte schon seit langem Zahnschmerzen. Sie hatte den Besuch beim Zahnarzt immer wieder hinausgeschoben. Nun waren die Schmerzen aber so stark geworden, dass sie es nicht mehr aushalten konnte. Sie fuhr zum Zahnarzt. Als sie das Wartezimmer betrat, stutzte sie. Wer saß neben der Tür ? Es war der Herr, den sie so sehr beim letzten Fest vermisst hatte. Er bat sie, neben ihm Platz zu nehmen. Sie sprachen miteinander. Ihre Schmerzen waren vergessen. Als er sie nach der Behandlung auf dem Heimweg begleitete und ihr von sich erzählte, wussten beide, dass sie sich lieb hatten und sich wieder sehen mussten. Dass auch niemand was daran ändern konnte. Nun sahen sie sich öfter. Zuerst trafen sie sich heimlich, ihr Vater durfte sie nicht sehen. Es war eingetreten, was er so sehr befürchtet hatte: Hanne liebte einen Mann, der kein Bauer war, keinen Hof und kein Vieh besaß. Er war Beamter und hatte genügend Einkommen, um eine Familie ernähren zu können.

Als ihr Vater von der Liebe seiner Tochter zu diesem Herrn hörte, war er außer sich. Hanne achtete nicht auf die Drohungen ihres Vaters. Sie tat weiter ihre Pflicht. Wenn die unfreundlichen Worte ihres Vaters sie auch hart trafen, was machte das schon! Die Liebe dieses Mannes wog alles auf, sie war unsagbar glücklich. Dass die echte Zuneigung zweier Menschen die Hauptsache ist, davon wollte der Vater nichts hören. Als später ihr Auserwählter die Frage dem Vater stellte: "Hanne und ich, wir beide lieben uns doch, bedeutet Ihnen das gar nichts?", antwortete ihr Vater: "Was ist Liebe? Liebe geht zum Fenster raus!" Hanne stellte sich danach die Frage: "Hatte er seine Mutter geheiratet, weil sie den großen Hof erbte?". Zorn stieg in ihr auf und zugleich fühlte sie Mitleid mit ihrer Mutter, denn sie liebte sie sehr!

Hannes Bruder und auch ihre Freundin, die der Bauer sehr schätzte, sprachen mit ihrem Vater über die Heirat Hannes. Murrend gab der Vater dann schließlich die Einwilligung zur Hochzeit. Heinrich hatte damit gedroht, beide würden den Hof verlassen, wenn er sich weiterhin dieser Ehe widersetzte. Der Vater hatte auch eingesehen, dass nichts mehr Hanne davon abhalten konnte - auch seine Drohung nicht, ihr keine Aussteuer zu geben - diesen Mann zu heiraten. Um seine Tochter und nun seinen einzigen Sohn nicht zu verlieren, musste er schließlich an der Hochzeit teilnehmen. Hannes Mutter freute sich über das Glück ihrer Tochter, sie hatte den Mann vom ersten Augenblick an lieb gewonnen.

Im März war die Verlobung. Als ihr Bräutigam mit einem wunderschönen Frühlingsstrauß aus Narzissen und weißem Flieder vor ihr stand, sagte er verliebt die Worte: "Hanne, was bist du schön !". Sie war so glücklich, wie sie es sich nicht hatte vorstellen können.

Als ihr Bruder dieses Glück sah, wurde er derart animiert, sich nun auch eine Frau zu suchen, dass es nur wenige Tage dauerte bis er das rechte Mädchen gefunden hatte. Bei seinem erste Besuch hatte Hanne ein paar Blumen aus ihrem Verlobungsstrauß für sie "geopfert". Ob diese Blumen nun "schuld daran" sind?: Heinrichs spätere Frau und Hanne wurden nicht nur Schwägerinnen - sie wurden auch Freundinnen!

Es war ein heißer Tag im Juli, an dem die Hochzeit stattfand. Da Hannes Vater sich verbeten hatte, den Anschein einer Bauernhochzeit mit geschmückten Kutschen zu geben, waren die Verwandten und Freunde mit dem Auto gekommen. Nur ihr Vater hatte die Kutsche - den offenen Jagdwagen - aufpolieren lassen. Die Pferde wurden geputzt und gestriegelt. Wie ein König ließ er sich mit seiner Frau vom Kutscher zur Kirche fahren. Hannes Mutter hatte ihm des lieben Friedens wegen nicht widersprochen.

Der Trauspruch: "Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein" war für ihren Vater ein Stachel. Hannes Geduld hatte ihn besiegt. Alle waren vergnügt, nur ihr Vater machte ein ernstes Gesicht. "Hätte er doch - wie schon oft - Schmerzen im Knie und ich ihm einen Liebesdienst erweisen könnten" dachte Hanne. Sie hatte oft durch Massage des Kniegelenks seine Schmerzen beseitigt. Es war schon gegen Abend, als ihr Vater sie rufen ließ. "Hast du auch heute Zeit und Lust, mein Knie zu massieren und mir die Schmerzen zu nehmen" fragte ihr Vater. Darauf hatte sie doch gewartet. Und dieser Liebesdienst an ihrem Hochzeitstag stimmte den Vater versöhnlich, jedenfalls für die letzten Stunden dieses Tages.

Als Hanne und nun ihr Mann den Vater zwischen sich nahmen - er stand allein am Gartentor - sagte er zu dem Bräutigam: "Was du mir heute genommen hast, wirst du später selbst erfahren". Liebte er seine Hanne so sehr, dass er sie keinem anderen gönnte? Hatte Herr König Recht, als er ihr prophezeite: "Wenn Sie mal heiraten, bedaure ich Ihren Mann, denn ihr Vater wird sehr eifersüchtig sein".

Zwar dauerte es ein ganzes Jahr - ihr Vater nannte es ein "Strafjahr" - bis Hanne die ihr zustehende Aussteuer erhielt. Hanne hatte einen lieben Mann, der das Verhalten seines Schwiegervaters tolerierte.

Die Wohnung war bescheiden, denn die englische Besatzungsmacht hatte das Haus beschlagnahmt, in dem Hanne und ihr Mann wohnen sollten. Die "so schön leuchtende Seifenblase", so hatte ihr Mann die traurige Nachricht von der Beschlagnahme ihr mitgeteilt, "war geplatzt". Was machte das schon! Sie waren zusammen. Hannes Wunsch war Wirklichkeit geworden.

Ein paar Jahre später entstand das eigene Haus mit Garten. Auch des Wahrsagers Voraussage stimmte:

Hanne bekam eine Tochter und Jahre später auch einen Sohn.

Im Kachelofen stand der Wasserkessel aus ihrem Zimmer in Tendorf. Er erinnerte an die Zeit, als sie nur der "Knoten" war.

 

 

Hannes Elternhof, als sie ihn verließ